Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Untersuchungsraum Ost

Region Leipzig – Halle – Merseburg

Als dominante Entwicklung zeichnen sich vor allem in ländlichen Räumen zwei gegenläufige Prozesse ab: Einerseits werden viele Kirchengebäude sehr selten genutzt, ohne dass eine ausdrückliche Entscheidung zur Abgabe oder Umnutzung erfolgen würde. Die Gebäude stehen leer und verfallen irgendwann. Zugleich finden sich zahlreiche Beispiele, in denen kirchliche oder zivilgesellschaftliche Initiativen Kirchengebäude sanieren und mit neuem Leben füllen – selbst Ruinen werden immer wieder neu belebt. In den erfassten Objekten sind auffallend viele Pilger- und Fahrradkirchen mit kleineren baulichen Transformationen und künstlerischen Neugestaltungen.

Auch im städtischen Raum beobachten wir im Untersuchungsraum Ost nur wenige völlige Umnutzungen und Verkäufe, dominant ist die Nutzungserweiterung mit vielfältigen innerkirchlichen und säkularen Nutzungspartner:innen. Nach frühen Umnutzungsbestrebungen und -versuchen bereits in der Zeit der DDR agieren die Kirchen hier heute deutlich zurückhaltender. Im katholischen Bereich fällt die pragmatische Säkularisierung und Privatisierung kleiner, architektonisch eher provisorischer Bauten auf. Eine pragmatische Haltung  ist aber auch darüber hinaus wahrzunehmen.

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Karte Untersuchungsraum Ost © TRANSARA | Anke Lieb-Kadge
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Kirchentransformationen nach Bauzeit © TRANSARA | Anke Lieb-Kadge

Fallbeispiele und Nutzungstypen

Die quantitative Erhebung im Untersuchungsraum Ost umfasst 112 Fälle (Stand Mai 2024). In der Auswertung der Datenbank stellen sich folgende Transformationspfade als typisch für diesen Untersuchungsraum dar und wurden für die Auswahl der vertieft untersuchten Fallbeispiele in Anschlag gebracht.

Öffnung | Kirchen am Weg

Mindestens 17 von unseren 112 Fallbeispielen (15%) im ostdeutschen Untersuchungsraum sind als Kirchen am Weg profiliert, also als Fahrradkirchen, Pilgerkirchen oder Autobahnkirchen. Für den ländlichen Raum bilden sie einen wesentlichen Transformationspfad, vornehmlich für evangelische Dorfkirchen, aber auch eine profanierte katholische Kirche wird in dieser Weise von einem Verein betrieben. Sie bespielen einerseits eine touristische Logik und binden sich in entsprechende Infrastruktur ein (überregionale Fahrradwege, wiederbelebte Pilgerrouten etc.), zugleich verbindet sich Tourismus häufig auch mit lokalen, v. a. kulturellen Nutzungsprofilen (Konzerte, Ausstellungen, Veranstaltungen etc.).

Dabei reichen die Netzwerke, insbesondere über die Vereine, die hier wesentliche Träger der Nutzungsgestaltung sind, weit in den entkirchlichten und zivilgesellschaftlichen Bereich hinein. Zuweilen übernehmen Vereine oder Privatpersonen auch die Eigentümerschaft. Die Abgrenzung dieser Transformation zeigt sich jedoch als volatil: wo beginnt „Nutzungsänderung“? Bereits mit einer verlässlichen Öffnung des Gebäudes und einer einladenden Gestaltung des Umfelds? Aus unseren Feldstudien lassen sich Indizien gewinnen, dass damit mehr geschieht, als man vermuten kann.

Aus diesem Feld haben wir mit der Neumarktkirche in Merseburg, der Marienkirche in Horburg und der Fahrradkirche in Zöbigker drei unterschiedliche Formatierungen ausgesucht. Alle drei stehen auch für das Phänomen der Revitalisierung von vorher wenig oder gar nicht genutzten Kirchen, das wir im Osten an vielen Stellen finden.

Bildungsarbeit

Bildung ist schon immer eine wesentliche Dimension von Kirchengebäudenutzung gewesen. Im ostdeutschen Untersuchungsraum wird diese verstärkt und vervielfältigt. (Kunst-)historische, religionspädagogische, intergenerationale und politische Bildung verzahnen sich nicht selten ineinander. Häufig sind Bildungsaspekte mit unterschiedlichen Bereichen von Kultur verbunden.

Gerade die Kirchengebäude in ländlichen Räumen, die sich neu als Dorfmittelpunkt etablieren, wie die Kultur- und Bildungswerkstatt auf dem Pfarrhof in Nöbdenitz (Seniorentanz, Ausstellungen, Kochkurse und gemeinsames Backen, Vorträge und Seminare, Kinovorführungen) oder die Marienkirche in Horburg (Führungen für Reisegruppen und Schulklassen, Infomaterial zur Kirche für Pilgernde, Lernort für Schulprojekte, Lesenacht und musikalische Angebote für Kinder und Familien vor Ort) integrieren vielfältige Bildungsaspekte. Einzelne städtische Kirchen, wie die Lutherkirche in Leipzig, werden mit Schulstandorten verbunden und ganz in dieser Hinsicht profiliert. Das Paulinum – Aula / Universitätskirche St. Pauli nimmt hier eine besondere Rolle ein.

Das Thema Bildung steht stellvertretend für weitere innerkirchliche Spezialisierungen (Kultur, lebensbegleitende Rituale, Diakonie). Fallbeispiele, die diesen Transformationspfad abbilden, sind die Marienkirche in Horburg, die Ökokirche Deutzen, das Paulinum in Leipzig und die Zirkuskirche Großkayna. Damit sind unterschiedliche ländliche und städtische Räume, beide Konfessionen sowie verschiedene Trägerschaften repräsentiert.

Diakonisch-soziale Nutzung

Auch die diakonische Dimension von Kirchengebäuden hat lange Traditionslinien. Kirchen waren über die Jahrhunderte in je unterschiedlicher Weise Schutzraum für Vulnerable, Orte der Vermittlung sozialer Ideale und Räume, in denen soziale Differenzen relativiert werden.

Im Untersuchungsraum finden wir diese Dimension von ganz niedrigschwelligen Angeboten, etwa einer preiswerten Übernachtungsmöglichkeit auf dem Pilgerweg (Neumarktkirche Merseburg), über Dorf- oder Stadtteilzentren in kirchlicher Trägerschaft (Heilandskirche Beilrode, Stadtteilzentrum Westkreuz in der Heilandskirche Leipzig) bis hin zu geteilter oder alleiniger Trägerschaften (mit) der Diakonie (Bürgerhaus Christuskirche Halle, Philippuskirche Leipzig). Nicht immer erfüllen sich dabei die Hoffnungen auf Synergie – sind doch auch die Logiken von verfasster Kirche und organisierter Diakonie unterschiedlicher als man denkt.

Zwei Beispiele bewegen sich auf der Grenze unserer Definition von „Transformation“, weil der eigentliche Kirchenraum kaum eine Veränderung erfährt. Die Anlagerung eines diakonischen Quartiers mit Pflegeschule, Wohnheim, Mehrgenerationenhaus und Kita zum Campus Lorenzo in Leipzig verändert jedoch auch die Nutzung des Kirchenraumes. Ebenso die Einrichtung einer Bildungs- und Kulturwerkstatt auf dem Pfarrhof in Nöbdenitz. Beide Beispiele werden von Teilprojekt 2 näher untersucht.

Nutzung mit säkularen Partnern

Die Ausgangshypothese bei der Beantragung der Forschungsgruppe, dass sich im ostdeutschen Raum besonders viele Beispiele für eine Nutzung mit säkularen Partnern finden, hat sich in der quantitativen Erhebung bestätigt. Dazu gehören v. a. Vereine, die mit ihren Anliegen und ihrer Zusammensetzung weit in die Zivilgesellschaft ausgreifen. Weitere Bereiche sind Bildungsträger wie Schulen oder die Universität Leipzig. Auch Kommunen selbst kommen als Eigentümer oder durch die (Mit-)Nutzung einer Kirche als kommunale Trauerhalle vor. Weitere säkulare Institutionen nutzen in stadtteilorientierten Projekten die Räume als Mieter.

Als Fallbeispiele haben wir dafür die Heilandskirche Leipzig / Stadtteilzentrum Westkreuz ausgewählt sowie das Paulinum Leipzig. Im ländlichen Raum können die Marienkirche Horburg und die Ökokirche Deutzen hier eingeordnet werden.

Umnutzung

Für eine dezidierte Umnutzung, die vielleicht auch mit einem Verkauf des Gebäudes einhergeht, finden sich im Leipziger Untersuchungsraum (12 Fallbeispiele, 10%) deutlich weniger Beispiele als im Aachener Bereich (33 Beispiele, 21% der erfassten Objekte). Vor allem wenig ortsbildprägende, kleine und vielleicht sogar ursprünglich profane Gebäude im katholischen Bereich bilden dabei einen Schwerpunkt (6 Fallbeispiele). Wo katholische Gemeinden vor Ort geradezu verschwinden, werden sie zwar in Trauer, aber ohne großen Gegenprotest privatisiert und als Lagerhalle oder Wohnraum genutzt.

Bei evangelischen Kirchen im ländlichen Raum führt eine Privatisierung nicht selten zu einer öffentlichen Nutzung nah an der bisherigen (Pilgerkirche Kleinliebenau, Kirche Stöbnitz für Kulturangebote und Pilgerstation, katholischerseits ganz ähnlich die von einem Verein betriebene Kirche Herz Jesu in Mücheln-Neubiendorf am Geiseltalsee). Die von einem Unternehmen v. a. als Hochzeitslocation betriebene „Eventkirche“ in Elstertrebnitz wäre dazu ein Gegenbeispiel. 

Als Fallbeispiele haben wir hier ein katholisches – Zirkuskirche Großkayna – und ein evangelisches Beispiel – Philippuskirche Leipzig – ausgewählt. Erstere wird von einem säkularen Verein, letztere von einem diakonischen Träger betrieben, was ebenso interessante Vergleichsmöglichkeiten eröffnet wie zu Aachener Fallbeispielen.

 

 

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