Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Untersuchungsraum West

Region Niederrhein – Aachen – Eifel

Der Untersuchungsraum West umfasst das städtische Ballungszentrum rund um Aachen sowie die ländlichen Regionen mit dem Niederrhein im Norden und dem Naherholungsgebiet Eifel im Süden. In all diesen Regionen ist eine hohe Anzahl von Nachkriegskirchen (Wiederaufbau und Neubau) und eine starke Tendenz zur forcierten
Abwicklung von Kirchengebäuden mit Abriss, Verkauf oder Umnutzung festzustellen. Die Abgabe vor allem von Nachkriegskirchen ist durch die entsprechenden kirchlichen Immobilienkonzepte inzwischen institutionalisiert.

Die Initiativen von kirchenleitender Seite fokussieren sich auf die Etablierung von Neunutzungsmodellen, die finanzielle Tragbarkeit versprechen, wie z. B. das Kolumbarium als Indoor-Friedhof. Innovative hybride und bauerhaltende Neunutzungen entwickeln sich eher in der Kooperation mit säkularen Partner:innen. In Einzelfällen gelingt
es kirchlichen Gemeinden, durch Eigeninitiative, Ideenreichtum und Öffnung in die Zivilgesellschaft nachhaltige Transformationen der Kirchenräume umzusetzen.

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Karte Untersuchungsraum West © TRANSARA | Anke Lieb-Kadge
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Kirchengebäude nach Bauzeit © TRANSARA

Fallbeispiele und Nutzungstypen

Die quantitative Erhebung im Untersuchungsraum West umfasst 159 Fälle (Stand Juni 2024). In der Auswertung der Datenbank stellen sich nachfolgende Transformationspfade als typisch für diesen Untersuchungsraum dar und wurden für die Auswahl der vertieft untersuchten Fallbeispiele in Anschlag gebracht. Eine Auswertung nach Erbauungszeit der Kirchen zeigt zudem einen überproportionalen Anteil an Kirchenbauten aus dem 19. und v.a. aus dem 20. Jh., hier noch einmal besonders deutlich Kirchen nach 1945 (Nachkriegskirchen).

Umnutzung I: Grabeskirchen | Kolumbarien

Mindestens 15 von unseren 159 erfassten Objekten (10 %) im westdeutschen Untersuchungsraum sind als Grabeskirchen profiliert, mind. ein weiteres Kolumbarium (Krefeld-Linn, St. Mariä Himmelfahrt) ist noch in Planung. 14 Bauten sind katholischen Kirchen, 1 ist evangelisch (Alte ev. Friedhofskapelle in Mönchengladbach-Odenkirchen).

Bis 2019 war es häufig üblich, den Altarraum der zu Friedhofsstätten umgewidmeten Kirchen geweiht zu lassen und nur so genannte Teilwentwidmungen vorzunehmen; seit dem Erlass einer neuen Richtlinie des Bistums Aachen ist dies nun nicht mehr ganz einfach möglich. Zukünftig muss bei der Errichtung neuer Kolumbarien in auch gottesdienstlich genutzten Räumen auf eine klare räumliche Trennung der beiden Bereiche geachtet werden.Die  hybride Nutzung der Grabeskirchen als Gottesdienst- und Friedhofsstätte hat sich dennoch etabliert. Derzeit werden z. B. noch regulär für den Gottesdienst die Dürener Kirche St. Cyriakus oder die Mönchengladbacher Kirche St. Matthias genutzt. Eine Ausnahme bildet die Kirche St. Gregorius in Aachen, bei der nur die Unterkirche in ein Kolumbarium umgewidmet wurde, während die Oberkirche wie bisher üblich als Gottesdienstort weitergenutzt wird.

Die hohe Dichte an Grabeskirchen im Bistum Aachen erklärt sich teilweise aus der geografischen Nähe zur holländischen Grenze (niedrigere Preise für Kremierungen als in Deutschland), teilweise aus dem durch den KIM-Prozess im Bistum Aachen ausgelösten Wirtschaftlichkeitsdruck in den Gemeinden, die in der Umwidmung ihrer Kirchen zu Kolumbarien häufig die Chance sehen, sie wirtschaftlich zu ertüchtigen und dennoch als Gottesdienstort in einer würdigen Form erhalten zu können. Auch denkmalpflegerische Aspekte spielen eine große Rolle, wobei nicht alle zu Grabeskirchen umgewidmeten Objekte unter Denkmalschutz stehen.

Neben St. Cyriakus in Düren (19. Jh.) sind weitere von TRANSARA als Fallbeispiele näher betrachtete Kolumbarien St. Josef (19. Jh.) und St. Donatus (20. Jh.), beide in Aachen.

Umnutzung II: Wohn- und Betreuungsraum

Eine weitere sehr häufige Transformation im Untersuchungsraum West liegt in der hohen Besiedelungsdichte der Region begründet, die eine stetige Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum erzeugt. Im Raum Aachen sind seit Beginn der 2000er Jahre 12 Kirchen und kirchliche Immobilien für den Bau von Wohn- oder Pflegeeinrichtungen abgerissen und 8 Kirchen und Gemeindehäuser zu Wohn-, Pflege- und/oder Büroeinheiten umgebaut worden (KiTas und Pfarreinbauten nicht mitgezählt).  Mind. 6 weitere Objekte sind aktuell in Planung – das entspricht einem Anteil von 17 % an den untersuchten Objekten.

10 Objekte sind katholische Kirchen oder Klöster (Raphaelhöfe Soers Aachen, St. Alfons Aachen, Karmelitinnen-Kloster Zweifall), 9 Objekte sind evangelische Kirchen oder Gemeindehäuser, darunter die als Fallbeispiel näher betrachtete ev. Friedenskirche in Mönchengladbach, ein Bau aus dem 19. Jahrhundert (1866). Zu den markantesten Wohnumnutzungen einer katholischen Kirche ist der Umbau von St. Norbertus in Krefeld zu einem Wohn- und Geschäftshaus zu zählen.

Bildungsarbeit I: Innerkirchliche Profilierungen

Innerkirchliche Profilierungen tragen ebenfalls deutlich zu Änderungen in der gewohnten Nutzung bei. Diese Nutzungsänderungen weisen sowohl die größte Bandbreite an Flexibilität in der Umgestaltung als auch in der Kooperationsbereitschaft mit externen Partnerschaften auf.

Eine Profilierung ist dabei nicht allein auf neu gesetzte Schwerpunkte und Zuweisungen wie Trauerpastoral, Jugendpastoral oder Kunstpastoral zu beziehen, sondern lässt sich in der Umsetzung ganz pragmatisch aufspannen zwischen Citykirchen mit kulturellem Angebot wie in der Dürener Kirche St. Anna und der Mönchengladbacher Citykirche St. Mariä Himmelfahrt oder erweiternden Angeboten wie dem caritativen Büchermarkt in Mönchengladbach Heilig Geist sowie umfassenden baulichen Veränderungen zu neuen Kulturzentren wie dem Pfarrzentrum St. Maria in Willich-Neersen in Kooperation mit Caritas und der Kommune oder der Marienkirche in Düren mit dem Einbau eines Kommunikationsraums, der sowohl vom lokalen Orchester als auch vom benachbarten städtischen Museum genutzt wird.

Einen besonderen Stellenwert nehmen bauliche Eingriffe zur Umnutzung des Gebäudes innerhalb kirchlicher Wirkungsradien ein wie eine KiTa in der entwidmeten Bonifatiuskirche Düren oder das Diözesanarchiv des Bistums Aachen in der entwidmeten Kirche St. Paul in Aachen.

Bildungsarbeit II: Diakonisch-soziale Nutzung

Die diakonische Dimension von Kirchengebäuden hat lange Traditionslinien. Im Raum Aachen finden sich diese derzeit in verschiedenen Transformationstypen wieder. Sowohl in der Umnutzung zu Wohn- und Betreuungseinrichtungen lassen sich diakonisch-soziale Aspekte verorten, etwa im Umbau der ehem. Kirche St. Johann Baptist in Mönchengladbach zur Tagespflege mit Seniorenwohnungen und dem im ehemaligen Pfarrheim untergekommenen Begegnungszentrum Hannes gleich nebenan, als auch in der gemeinsam mit der Caritas entwickelten Neukonzeption der Räume des Pfarrzentrums St. Maria in Willich-Neersen, das u. a. eine Kleiderkammer und weitere Caritas-Räume beherbergt. Auch die Bereitsstellung der Räume der ev. Kirche in Baesweiler-Setterich als von der Kommune temporär angemietete und vom Deutschen Roten Kreuz betriebene Geflüchteteten-Erstaufnahmestation lässt sich dem Bereich der diakonisch-sozialen Nutzung zuordnen.

Viele diakonisch-soziale Nutzungen bilden sich häufig aus dem Eigenengagement der Gemeinden - hier scheint es im Untersuchungsraum West insgesamt jedoch an Unterstützung, Förderung und Vernetzung zu fehlen.

Umnutzung III - Nutzung mit säkularen Partnern und Umnutzungen

FKooperationen mit säkularen Partnern finden sich im Untersuchungsraum West bisher nur in Ansätzen, die meist aus finanziellen Zuschüssen und/oder Anmietung einzelner Räume bestehen. Verkäufe zur kommerziellen Umnutzungen wie die Digital Church in Aachen, die Buchhandlung in der ehemaligen Heilig Geist Kapelle in Kempen, das Fahrradfachgeschäft Tom’s Bike Center in der ehemaligen Kirche  St. Rochus in Jülich sowie die bereits etwas länger zurückliegende Umnutzung der Kapelle St. Barbara der früheren Rheinischen Provinzial- Fürsorge- und Erziehungsanstalt Rheindahlen auf dem Mönchengladbacher Nordparkgelände zu dem Hotel und Restaurant Palace St. George sind ebenfalls bisher Einzelfälle.

 

Eine Ausnahme als Modell bildet auch die entwidmete und für 25 Jahre verpachtete Kletterkirche St. Peter in Mönchengladbach. Sie wird zwar von externen Partnern – den Betreibern der Kletterhalle - genutzt, ist jedoch im Eigentum der Gemeinde verblieben.

Geänderte Konfession

16 Objekte im Untersuchungsraum wurden durch andere Konfessionen übernommen oder werden  gemischt-konfessionell als so genannte Simultaneen genutzt. Dies entspricht 10 % der erfassten Objekte. Diese hohe Zahl resultiert ebenfalls teilweise aus der hohen Bevölkerungsdichte verbunden mit hohen Migrationsanteilen in der Bevölkerung, teilweise aus der wachsenden religiösen Pluralität in der Gesellschaft.

5 Kirchen (3 kath., 2 ev.) sind von orthodoxen Gemeinden übernommen worden, 6 Kirchen und Gemeindehäuser von Freikirchlichen Religionsgemeinschaften. Allerdings ist auch eine neuapostolische Kirche von einer evangelischen Gemeinde übernommen worden, nachdem ihre Kirche, die alte Johanneskirche in Krefeld-Linn, zwecks Verwertung des Grundstücks für Wohnbebauung abgerissen wurde.

Neubauten und Abrisse

Obwohl für den Untersuchungszeitraum seit 1990 neu erbaute Kirchen nur in geringster Anzahl zu erwarten wären, zeigt sich neben der hohen Zahl an Abrissen (28) auch eine signifikante Zahl an Neubauten (14). Beide sind teilweise mit der noch bis vor wenigen Jahren üblichen Praxis der Translokationen und Substitutionsbauten im Zuge des Braunkohletagebaus im Untersuchungsraum West zu begründen. 9 (bzw. 11) Abrissen stehen 8 Kirchen- und Kapellenneubauten als Substitutions- und Erinnerungsbauten gegenüber.

Weitere Abrisse erfolgten im Zuge von Wohnbebauungen, wie unter „Wohn- und Betreuungsraum“ erläutert. Weitere Neubauten sind vor allem in der evangelischen Kirche im Zuge von Sanierungsmaßnahmen oder Gemeindezusammenlegungen zu verorten wie die ev. Genezarethkirche in Aachen (2018), das Gemeindezentrum St. Gangolf in Heinsberg (2021) oder die Jona-Kapelle (2018) in Mönchengladbach, die kleinste Kapelle am Niederrhein.

2016 wurden im neu erbauten Helios-Klinikum in Krefeld anstelle der mit dem gesamten Gebäudekomplex abgerissenen katholischen und evangelischen Kapelle eine neue ökumenische Kapelle sowie ein Raum der Stille eingerichtet.

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