Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Mönchengladbach-Geistenbeck,
Gemeindezentrum Heilig Geist

Lesen schafft neue Beziehungen

Baujahr: 1983
Architekt:
Heinrich Lennartz, Erkelenz
Denkmalstatus:
Nein

Kath. Filialkirche der Pfarrei St. Laurentius Odenkirchen der GdG Mönchengladbach-Süd / Pastoraler Raum „Rheydter Gürtel“ im Bistum Aachen

Teilumnutzung: 2019
Profanierung:
Nein
Verkauf: Nein

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© By Chris06 - Own work, CC BY-SA 4.0 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=87647018

Konfession: katholisch

Trägerschaft / Eigentümer: Kirchengemeinde Heilig Geist in der Pfarrei St. Laurentius

Lage / Adresse: Stapper Weg 337, 41199 Mönchengladbach
ländlich geprägter Ortsteil im südlichen Teil der Großstadt Mönchengladbach


Bau

freistehende Pfarrkirche auf quadratischem Grundriss inmitten eines (unabhängig voneinander erbauten) Ensembles aus Pfarrhaus, Kindergarten und Gemeindehaus

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Luftbildaufnahme © Gemeinde Heilig Geist, Mönchengladbach (2010)

Transformation

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Innenraum vor der Neugestaltung, 2010 © LVR
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Innenraum nach der Neugestaltung, 2023 © TRANSARA

Eine „Offene Kirche“ war das Ziel

Die aktive und im dörflichen Ortsteil Geistenbeck bestens vernetzte Gemeinde bedauerte, dass ihre Kirche meist nur noch alle 14 Tage zur Messe öffnete. Als Filialkirche der Pfarrei St. Laurentius in Odenkirchen hat Heilig Geist offiziell keine eigene Pfarrstelle. Ihr langjähriger, hochbetagter Pfarrer Johannes van der Vorst lebt jedoch nach wie vor im Pfarrhaus von Heilig Geist.

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Außenbau © By Chris06 - Own work, CC BY-SA 4.0 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=87647018
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Eingang Büchermarkt, 2024 © TRANSARA

So kam man auf die Idee, den schon viele Jahre als Teil der Gemeindearbeit etablierten Büchermarkt, der sich großer Nachfrage erfreute und längst mehr Platz benötigte, in den Kirchenraum zu holen. Mit sehr viel Eigeninitiative aus der Gemeinde wurde ein Konzept entwickelt, das nur ein kleines Budget, aber sehr viel ehrenamtliches Engagement erforderte, jedoch auch eine sehr große, gut spürbare Wirkung auf das Gemeindeleben, die Wohnumgebung und die gesamte Region erzielte.

Ende 2019 begannen die Planungen und im Frühjahr 2020 eröffnete der erste regelmäßige Büchermarkt in einer Kirche. Nun ist die Kirche neben den weiterhin stattfindenden Wortgottesfeiern und Messen an drei Tagen in der Woche für den Bücherverkauf geöffnet. Zusätzlich findet jeden Monat ein großer Büchermarkt statt, bei dem auch das Gemeindecafé öffnet oder beim DRK Blut gespendet werden kann. Gemeindeleben und spirituelles Angebot sind seither spürbar lebendiger geworden. Die Einnahmen aus den Bücherverkäufen werden verschiedenen Kinder- und Jugendhilfeorganisationen im Umland gespendet oder kommen der Kinder- und Jugendarbeit in der Gemeinde zugute.


Raum

Das ganze Ensemble aus Kirche, Vorsthaus (Gemeindehaus), Kindergarten und Pfarrhaus strahlt Offenheit aus und ist eingebettet in mehrere Grünflächen sowie lockere Bebauung. Das Vorsthaus wurde bereits  in den 1990er Jahren durch einen gläsernen Anbau ergänzt, in dem sich das ‚Gemeindecafé‘ befindet. Aktuell baut die Gemeinde auf einem neu erworbenen Grundstück zwischen Vorsthaus und Kindergarten – etwas abgerückt von der hofartigen Anordnung der übrigen Gebäude – Seniorenwohnungen und eine Tagespflegeeinrichtung.

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Vorsthaus Anbau © By Foto: Käthe und Bernd Limburg, www.limburg-bernd.de / Lizenz: Creative Commons BY-SA-3.0 de, CC BY-SA 3.0 de https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48416862
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Balkendecke, 2023 © TRANSARA

Flexible Einrichtung

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Kinderecke © TRANSARA
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Stuhllager © TRANSARA

Der großzügige Kirchenraum bot sich für eine flexiblere Einteilung an, ohne dass größere Umbauten notwendig gewesen wären. Sein quadratischer Grundriss mit diagonal angelegter Ausrichtung des Altarbereichs empfahl eine Nutzung der Raumecken, sodass die Qualität der Weite und Geschlossenheit des Raums nicht beeinträchtigt ist. Die Kirche ist nach Nordwesten orientiert. Richtung Altarinsel steigen Balken einer schönen hölzernen Decke an und sind über dieser in einer kunstvollen Drehung miteinander verbunden. Von der Altarinsel ausgehend waren und sind die Kirchenbänke in vier Blöcken aufgestellt. Die hinteren Bankreihen wurden bei der Neuordnung des Raums entfernt, sodass Platz für ca. 6 Reihen Regale geschaffen wurde. Die gleich hohen, aber unterschiedlich breiten Regale besitzen Rollen, die eine flexible Aufstellung erlauben. Wenn einmal mehr Sitzplätze benötigt werden (Festgottesdienste, Weihnachten), werden die Regale gegen Stühle ausgetauscht und in das ‚Stuhllager‘ – ebenfalls aus Bücherregalen geformt - in die östliche Raumecke gerollt. In der westlichen Raumecke findet sich in ähnlicher Form und Dimension die Kinderecke mit Spiel- und Sitzmöglichkeiten. Auch die Empore und die Werktagskapelle wurden in das Konzept mit einbezogen und bieten verschiedene Möglichkeiten des Rückzugs (Leseecke, Computer-Arbeitsplatz).


Sakral

Der Gottesdienstraum blieb in seiner Orientierung unverändert, einzig die Zahl der Sitzplätze wurde reduziert und begegnet darin offen der sinkenden Zahl an Gottesdienstbesucher*innen. Während der Wortgottesdienste und Messfeiern bleiben die Regale stehen, was anfänglich für viele Gemeindemitglieder gewöhnungsbedürftig war. Inzwischen gehen aber viele diesen neuen Weg der Liturgie offen mit und auch neue Gottesdienstbesucher*innen begegnen dem Konzept mit Interesse und Neugierde. Mehrmals im Jahr wird für große Festgottesdienste der Raum voll bestuhlt, was einiges an logistischem Aufwand mit sich bringt. Doch die Gemeinde hat gemeinsam mit dem Architekten ein gleichermaßen einfaches wie ausgeklügeltes Logistikkonzept für den Raum erarbeitet, sodass der Austausch zwischen Regalen und Stuhllager inzwischen einwandfrei funktioniert.

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Büchermarkt, 2023 © Gemeinde Heilig Geist Mönchengladbach, Irmgard Selker
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Kirche mit Bank- und Stuhlreihen, 2022 © Gemeinde Heilig Geist Mönchengladbach, Irmgard Selker

Dem noch jungen Kirchengebäude aus den 1980er Jahren ging ein Bau aus den 1920er Jahren voraus. Aus dieser alten Kirche finden sich noch zahlreiche Ausstattungsstücke wie gleich am Eingang der alte Grundstein über dem Grundstein des Neubaus und daneben in die Mauer eingelassen das alte Weihwasserbecken. Auch der nun als Leseplatz umfunktionierte Beichtstuhl in der Kinderecke stammt aus dem Vorgängerbau, ebenso wie das Taufbecken links neben dem Eingang und die Glocke rechts auf dem Weg zur Orgelempore. Das selbstverständliche Arrangement und die Nutzung dieser Stücke zeigt besonders deutlich das enge Verhältnis der Gemeinde zu Ihrer Geschichte und zu ihren Räumen.

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Grundstein, Zustand 2024 © TRANSARA
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Glocke, Zustand 2024 © TRANSARA
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Beichtstuhl, Zustand 2024 © TRANSARA

Alte und neue Liturgische Orte

Aufgrund des nicht einfachen Starts des Büchermarkts während der Jahre der Corona-Pandemie 2020 bis 2022 hat sich noch nicht für alle Bereiche ein neues Gleichgewicht finden lassen, beispielsweise für den Ort der Taufe. Unabhängig von der Häufigkeit seiner Nutzung kommt dem Taufort in der Kirche immer eine besondere symbolische Bedeutung zu. Aktuell steht der Taufstein etwas an den Rand gedrängt links neben dem Eingang zum Gottesdienstraum – zwischen Windfang und Werktagskapelle. Der Ort soll bald eine aufwertende Gestaltung erfahren. Auch für die als zusätzlicher Leseraum mit großem Büchertisch genutzte, ehemalige Werktagskapelle wünschen sich das Büchermarktteam und die Gemeinde ein anderes Arrangement. Die Beleuchtung des Raums soll ebenfalls erneuert werden und durch eine Lichtsteuerung für Büchermarkt und Liturgische Nutzung unterschiedliche Lichtsituationen erlauben. Für das Team des Büchermarkts ist die Transformation des Gottesdienstraums also noch lange nicht abgeschlossen, sondern steht vielmehr noch an ihrem Beginn – einem Beginn, den inzwischen alle Beteiligten als gelungen bewerten. Nach einer langsamen und achtsamen Lern- und Akzeptanzphase ist die Bereitschaft, den Raum in seiner neuen Ordnung zu würdigen und weiterzuentwickeln, größer denn je.

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Taufstein, 2024 © TRANSARA

TRANSARA-Perspektiven

Liturgisch hat man den Raum im Grunde nicht verändert. Die liturgische Nutzung dominiert die neu hinzugenommene Nutzung als Büchermarkt. Die hybride Nutzung des Kirchenraums existiert parallel. Die gottesdienstliche Nutzung der Kirche wird teilweise durch Profilierungen der anderen Standorte in der GdG eingeschränkt. Kindergottesdienste finden in der ‚Kinderkirche‘ St. Laurentius statt, doch immer häufiger wünschen sich Kindergärten und Schulen einen Gottesdienst in der Bücherkirche.

Zu würdigen sind das hohe Engagement der Beteiligten, die ganz deutlich machen, dass sie eine sinnstiftende Tätigkeit haben, der diakonisch-sozialraumorientierte Charakter (Bücherkisten in sozialen Institutionen, Ehrenamt mit großer Reichweite, Spendenzwecke des Bücherverkaufs) sowie die sehr überzeugende, klare Raumgestaltung. Die Separation des Raums durch Zonierung (statt Raumtrennung) ermöglicht Wechselbewegungen zwischen Gottesdienst und Büchermarkt in beide Richtungen.

Eine von Gemeindeseite vorausschauende Teilumnutzung mit flexibler Möblierung und Raumteilung, die den großen, speziell geschnittenen Nachkriegskirchenraum optimal ausnutzt und zur Geltung bringt. Die durch den caritativen Büchermarkt erfolgte Öffnung der Kirche in die Umgebung und darüber hinaus trägt zur gesamtgesellschaftlichen Interaktion und zum Engagement für den Erhalt des Kirchengebäudes und -standortes bei.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht stellt die Bücherkirche ein gelungenes minimal invasives Nutzungskonzept dar, welches weitere Nutzungen zusätzlich zur liturgischen erlaubt. Die Bücherkirche zieht neue Zielgruppen an, da der Büchermarkt weit über die Kirchengemeinde hinaus im Ort bekannt ist und sowohl Gemeindemitglieder als auch Nicht-Gemeindemitglieder sich hier engagieren. Darin begründet liegt jedoch die Problematik, dass die angestrebte Umnutzungsidee stets vom gemeindlichen Engagement weniger entscheidender Personen abhängt und somit nicht ohne weiteres von der Zukunftsfähigkeit des Konzeptes ausgegangen werden kann. Das Projekt ist nicht aus wirtschaftlichem Druck entstanden, im Gegenteil werden Instandhaltungskosten und Instandsetzung weiterhin vom Bistum getragen. Eine weitere Kommerzialisierung könnte eine Umsatzsteuerthematik nach sich ziehen, das aktuelle „karitative Büchermarktkonzept“ könnte sich als finanziell nicht tragfähig erweisen. Somit stellt sich zukünftig die Frage nach einem tragfähigen Betreiberkonzept, welches nicht mit einzelnen Personen steht und fällt. Dazu braucht es eine fundierte Machbarkeitsstudie, am besten bevor eventuelle finanzielle Restriktionen durch das Bistum veranlasst werden.

Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie hat das Projekt den Kirchenraum zu einem neuen Ort von Versammlung gemacht, da er nun (auch) von anderen Personen in anderen Konstellationen und auf andere Art und Weise gebraucht wird. Dabei zeigt sich auch ein Spiel mit Sakralität. Denn sakrale Gegenstände werden auf neue Weise gebraucht: Aus dem Beichtstuhl wird der Platz für die „Märchentante“, aus den Kirchenbänken werden CD-Regale. Hier zeigt sich: Transformationsprozesse kodieren Dinge um, sie verschieben Bedeutungen. Dabei wird ebenso deutlich, dass Transformationsprozesse nie abgeschlossen sind. In der Bücherkirche wird laufend umgestellt, verschoben und verräumt – je nach den aktuellen Bedürfnissen.


Links und Literatur

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