Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Baesweiler,
Gnadenkirche

Erstunterkunft für geflüchtete Menschen

Baujahr: 1956
Architekt:
Prof. Fritz Gottlieb Winter
Denkmalstatus:
Nein

Umbau: 2019-2022
Entwidmung:
2019
Verkauf: Nein

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© TRANSARA

Ursprüngliche Konfession: evangelisch

Eigentümer: Evangelische Kirchengemeinde Baesweiler-Setterich-Siersdorf. Gebäude vermietet an Stadt Baesweiler, Träger der Unterkunft ist das Deutsche Rote Kreuz.

Lage / Adresse: An der Gnadenkirche 1, 52499 Baesweiler
Im Baesweiler Stadtteil Setterich, einer ehem. Bergbausiedlung mit aktuell 8000 Einwohner*innen gelegen


Bau

Modernes trapezförmiges, zweistöckiges Kirchengebäude aus verkleidetem Backstein mit Pultdach und großen Fensterflächen. Freistehender Kreuzträger aus Stahlrohr, 23 m hoch. Die Bronzeglocken hängen jedoch im Dachstuhl.

Transformation

Aufbau

Im Laufe der 1950er Jahre kamen mehr und mehr Arbeiter:innen nach Baesweiler-Setterich, um im Braunkohletagebau Geld zu verdienen. Der Bau der daraufhin benötigten Kirche mit integriertem Gemeindezentrum, die 1958 geweiht wurde, war finanziell letztlich nur möglich, weil die Gemeindemitglieder ihn durch über 10.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden unterstützten – in dem Gebäude steckt folglich eine Menge Engagement!

Erweiterung

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Tafel mit Baudaten, 2024 © TRANSARA

Bereits Mitte der 1960er Jahre erfolgte eine Erweiterung des Kirchenraums durch den Einbau einer Empore, um dem Bedarf an 400 Plätzen für Gottesdienstbesucher*innen gerecht zu werden. Zusätzlich wurde das Gemeindezentrum in einen Neubau nördlich der Kirche verlegt.

Rückbau

Nach dem Auszug des Gemeindezentrums aus jenem Neubau im Jahr 2012 zogen dort zunächst eine Kita und später geflüchtete Menschen ein. Wenige Jahre später zeigte sich schließlich, dass die Gnadenkirche aufgrund der Schrumpfung der Gemeinde langfristig nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden würde, ebenso wie die nahegelegene Erlöserkirche in Siersdorf, die ebenfalls zur evangelischen Gemeinde gehört. 2019 erfolgte die Entwidmung beider Kirchengebäude. Seitdem dient die Friedenskirche in Baesweiler als zentrales Gotteshaus für die drei Evangelischen Kirchengemeinden Baesweiler-Setterich-Siersdorf.

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Eingang, 2024 © TRANSARA

Übergangslösung

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Blick von der Straße auf Kirche und Glockenturm, 2024 © TRANSARA

Seit 2022 steht die Gnadenkirche temporär für die Aufnahme von ca. 60 geflüchteten Menschen bereit. Ca. ein Jahr lang lebten hier Menschen u.a. aus der Ukraine. Das Gebäude ist dafür der Stadt Baesweiler und dem Deutschen Roten Kreuz überlassen worden, wodurch eine professionelle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren entstanden ist. Wie es in Zukunft mit dem Raum weitergeht, ist offen, auch wegen des sanierungsbedürftigen Bauzustands.


Raum

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Ehemaliger Altarbereich mit verbliebenem Kreuz, 2024 © TRANSARA

Wer heute in die Gnadenkirche kommt, dem fallen zuerst die leeren Stockbetten auf. Sie stehen überall im Raum verteilt, auch im ehemaligen Altarbereich, der etwas erhöht ist. Dort befindet sich auch ein großes Holzkreuz, das man aus Mangel an Alternativen hängen ließ.

In der ehemaligen Sakristei stehen große Kühlschränke, säuberlich beschriftet, in denen vorgekochtes Essen bereitgehalten werden kann. An zahlreichen Stellen im Gebäude finden sich Hinweis-Schilder auf Ukrainisch.

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Hinweisschilder im Küchenbereich, 2024 © TRANSARA

Auf der Empore des ehemaligen Kirchenraumes wurde eine Spielecke für Kinder eingerichtet, darüber hinaus dient die Empore als Aufenthaltsort und Arbeitsbereich mit Tischen, Stühlen und Stromanschluss. Ein Kicker und eine Tischtennisplatte ergänzen die Ausstattung.

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Spielecke am früheren Standort der Orgel, 2024 © TRANSARA
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Aufenthaltsbereich auf der Empore, 2024 © TRANSARA
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Kicker im Eingangsbereich, 2024 © TRANSARA

Einen interessanten Charakter hat auch das Foyer: Eine Reihe großer Zimmerpflanzen vor den Fenstern , die noch von der Gemeinde gepflanzt wurden, wachsen inzwischen deckenhoch aus dem integrierten Indoor-Beet.

Alles nur temporär?

Direkt unter dem Kreuzträger an der Ecke des Grundstücks befinden sich drei blaue Container mit Duschen, Toiletten und Waschmaschinen. Es ist nicht zu übersehen, dass der Raum wenig Privatsphäre ermöglicht und zudem schlecht zu belüften ist. Zur temporären Unterbringen eignet er sich jedoch besser als eine Turnhalle, da er mehr Zonierungen und funktionale Raumzuordnungen erlaubt.

Im Moment steht die Unterkunft leer, wird aber für kurzfristigen Bedarf weiter vorgehalten und gesichert. In diesem Sinn ist ihm bei aller pragmatisch-funktionalen und diakonischen Nutzung heute auch eine gewisse Ratlosigkeit anzusehen.

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Container zur Unterbringung der Sanitäranlagen, 2024 © TRANSARA

Sakral

Die Gnadenkirche ist ein Beispiel für eine temporäre diakonische Nutzung eines entwidmeten Kirchengebäudes. Die Kirche als „Dach über dem Kopf“ zu nutzen, wird durch eine gute Zusammenarbeit verschiedener Akteure ermöglicht. Von der früheren religiösen Nutzung des Gebäudes zeugen neben dem Bautyp einzelne Ausstattungsstücke wie das Holzkreuz oder erhaltene  Teile des Kreuzwegs. Diese sind allerdings nicht in die neue Nutzung einbezogen. Vielmehr wirkt es, als seien sie unbeabsichtigt hängen geblieben. Sie werden nicht zum Problem, sagen Mitarbeitende im Gespräch. Ob sie für die Geflüchteten eine Bedeutung hatten?

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Kreuzweg, 2024 © TRANSARA

Einige der Menschen, die dort vorübergehend gelebt haben, haben den Gottesdienst in der Baesweiler Friedenskirche besucht. Ob und wie die Unterbringung in einer Kirche auf diese und andere Geflüchtete gewirkt hat, bleibt offen, da sie aus unterschiedlichen Gründen nicht befragt werden können. Wie wäre es für Sie, mehrere Monate mit vielen anderen in einem Kirchengebäude zu leben?


TRANSARA-Perspektiven

In der liturgiewissenschaftlichen Betrachtung hat der Raum vor allem seinen einladenden Charakter verloren. Die Anordnung des Mobiliars und die Zuordnung der Räume zu verschiedenen notwendigen Funktionen zeugt von einem sehr pragmatischen Ansatz der Nutzung ohne Bezugnahme auf die ursprüngliche  Bedeutung.

Die Gnadenkirche ist ein Beispiel für eine pragmatische Ablösung der liturgischen durch eine andere Nutzung. Die soziale Nutzung erfolgt dabei nicht durch die Diakonie, sondern säkulare Betreiber. Wie in anderen Fällen endet damit eine dezidiert religiöse Nutzung des Raums. Gemeinde findet sich in der Rolle der Trauernden und der Helfenden. Für beide entwidmeten Kirchen der Gemeinde fällt auf, dass die Ratlosigkeit hinsichtlich einer neuen Nutzung zu einer gewissen Verwahrlosung der Räume führt. Einzelne Ausstattungsstücke verweisen (weniger als die Raumwirkung insgesamt, die durch die Einrichtung stark gebrochen wird) auf eine implizite Sakralität, deren Wirkung auf die Nutzer:innen Gegenstand weiterer Forschung sein könnte.

Beispiel für eine temporäre Weiternutzung einer kleinen Nachkriegskirche auf dem Land, deren Raumangebot aufgrund des stagnierenden Transformationsprozesses glücklicherweise nun für eine Notsituation (die immer öfter eintritt) und in Kooperation mit der Kommune und dem Roten Kreuz als Umnutzung zur Geflüchteten-Unterkunft zur Verfügung steht. Das pragmatische Provisorium mit Etagenbetten im Hauptschiff, Kantine und Kinderecke auf der Empore, sowie die Aufstellung von Containern mit den sanitären Einrichtungen auf dem Außengelände, lässt sich relativ problemlos und schnell auf- sowie abbauen, da die Kirche auch kein Denkmal ist. Allerdings ist das anfängliche Konzept einer kurzfristigen Unterbringung als Durchgangsstation nicht ganz aufgegangen, so dass viele Geflüchtete längere Zeit hier auf engstem Raum und ohne Privatsphäre leben mussten - nicht gerade dem christlichen Ideal einer menschenwürdigen Herberge entsprechend...

Aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive wurde das Alleinstellungsmerkmal des Gebäudes nicht ausreichend herausgearbeitet und miteinbezogen. Die Stockbetten wirken erdrückend und wurden in einer Fülle in den Raum gestellt, sodass der Eindruck der Unterbringung einer maximalen Zahl an Geflüchteten vermittelt wird und weniger der einer menschenwürdigen Unterbringung. Eine Nutzungskonzeption sowie Machbarkeitsstudie mit Markt- und Standortanalysen wurden augenscheinlich nicht durchgeführt, Quartierseffekte wurden nicht berücksichtigt. Ein positiver Social-Impact könnte durch die Integration der Geflüchteten vor Ort gestiftet werden, was mit dem relativ undurchdachten Konzept aber fraglich erscheint.

Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie zeigt die Gnadenkirche und provisorische Unterkunft für geflüchtete Menschen die Ungleichzeitigkeit von verschiedenen Prozessen: Da hängt das Holzkreuz in einer entwidmeten Kirche. Davor leere Stockbetten, die mal genutzt wurden und eventuell auch wieder werden. Draußen ein Bibelgarten, der nicht mehr gepflegt wird. Drinnen vor den Fenstern gedeihen kleine Bäume. Die Hinweisschilder auf Ukrainisch sind vielleicht für kommende Bewohner*innen nicht lesbar. Ob die Personen, die das Gebäude rund um die Uhr bewachen, wohl zwischendurch den Kicker nutzen? So liegt der Raum brach und zeugt von vergangenen Nutzungen. Damit stellt sich die Frage: Kann es Transformationen ohne Warten, Aushalten und Ratlosigkeit geben?


Links und Literatur

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