Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Willich-Neersen
Pfarrzentrum St. Maria

 Gottes- und Sozialdienst auf 3 Etagen

 

Bauzeit: 1960-62
Architekt: Günther Teller, Aachen
Denkmalstatus: teilweise (nur frühneuzeitliche Kapelle, ehem. Chor)

Kath. Pfarrkirche der Pfarrei St. Mariä Empfängnis in der GdG / Pastoraler Raum Willich, Bistum Aachen

Umbau: 2012-13
Architekt: Elmar Paul Sommer, Monschau
Entwidmung: 2011
Neuweihe: 2013
Verkauf: Nein

 

St. Maria Außenansicht
Heutige Außenansicht mit Blick auf den Haupteingang, den frühneuzeitlichen ehem. Chor mit Dachreiter und den metallenen Glockenturm © Transara

Konfession: katholisch

Eigentümerin / Trägerschaft: Kath. Pfarrei St. Mariä Empfängnis

Nutzer: Pfarrei, Caritas e.V., kath.-öffentliche Bücherei Neersen

Lage / Adresse: Hauptstr. 34, 47877 Willich-Neersen
im Zentrum von Neersen gelegen, einem dörflichen Stadtteil von Willich

Bau

Monumentale kastenförmige Nachkriegskirche auf T-förmigem Grundriss in Backstein-Beton-Optik mit frühneuzeitlicher Kapelle (ehem. Chor) und kleinem metallenen Glockenturm im Außengelände; im Inneren nimmt sie heute einen verkleinerten Gottesdienstraum sowie ein eingebautes dreigeschossiges Soziokulturelles Zentrum auf.

Transformation

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Der wieder geöffnete und als Kapelle neu gestaltete historische Chor © Transara
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Die in den Kirchenraum eingebaute öffentliche Bücherei © TRANSARA

In Konkurrenz zur neugotischen Pfarrkirche

Natürlich hatte bei der Gemeindezusammenlegung mal wieder die benachbarte neugotische Pfarrkirche St. Katharina in Willich „das Rennen“ gegen den monumentalen Nachkriegskirchenbau gemacht. Und das, obwohl der Bau eine lange Transformationsgeschichte zu erzählen hat, die bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreicht. In den 1960ern bot er den notwendigen Platzbedarf an Gottesdienstraum, wirkte aber damals schon überdimensioniert und war spätestens in den 2000er Jahren nicht mehr der bevorzugte Gottesdienstort. Nun also Filialkirche in der GdG und Verlust der eigenen Pfarrstelle.

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Außenansicht des großen Baukomplexes vom Pfarrzentrum St. Maria © TRANSARA
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Kleinteilige Randbebauung auf der gegenüberliegenden Straßenseite © TRANSARA

Dennoch gibt die Gemeinde St. Mariä Empfängnis ihren „Koloss“ an der kleinteilig mit historischen Wohnhäusern bestückten Straßenkreuzung nicht auf. Zusammen mit einer engagierten Bürgerschaft vor Ort sowie unter Beteiligung der Kommune organisiert sie ab 2010 Fördergelder für eine Machbarkeitsstudie, die schließlich 2013 einen Teilumbau und eine neue Nutzung ermöglicht.

Soziokulturelles Dorfzentrum

Öffentliche Bücherei im Erdgeschoss, Räume der Caritas sowie der Gemeinde in den oberen Etagen – mit dem Einbau einer dreigeschossigen soziokulturellen „Versorgungseinheit“ entwickelte sich die bis dahin zu große und nach außen geschlossen wirkende Nachkriegskirche zu einem offenen Treffpunkt für den kleinen dörflichen Stadtteil Neersen.

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Kleiderkammer der Caritas © TRANSARA
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Teeküche unter Treppenaufgang © TRANSARA

Partizipation beim Umbau

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Fotodokumentation der partizipativen Stampflehmsäulen-Aktion © TRANSARA

Im Zuge des Umbaus und der Abtrennung des großen Nachkriegskirchenschiffs vom aktuellen Gottesdienstraum wurden im Erdgeschoss zwei Stampflehmsäulen als „Zwischenglieder“ integriert, die partizipativ von Gemeindemitgliedern mitgestaltet wurden: Bei einer gemeinsamen „Stampf-Aktion“ entstanden die Säulen und ihnen wurden als „Beigaben“ kleine Gegenstände von alten und jungen Gemeindemitgliedern beigefügt.

Visualisierung St. Maria


Raum

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Neue Fensteröffnungen in der ehemaligen Kirchenschiffwand © TRANSARA

Außen bleibt die monumentale Nachkriegskirche mit ihrem frühneuzeitlichen Chor der Vorgängerkirche fast unverändert. Es wurden nur in die geschlossene Fassade des ehem. Kirchenschiffs im Süden, Westen und Osten Fensteröffnungen eingesetzt, um mehr Licht in die neuen Konferenzräume hineinzulassen.

Schließung und Öffnung

Der ursprüngliche Gottesdienstraum wird im Inneren durch die Abtrennung des Langschiffs radikal verkleinert. Durch die Öffnung der Sakristeiwand im Osten wird der vorher vermauerte und als Sakristei genutzte ehemalige Chor des frühneuzeitlichen Vorgängerbaus einbezogen und erhält wieder einen historischen Bezug. Allerdings wird er durch seine neue Blaufärbung der Wand als ein „ahistorischer“ Annexraum markiert.

Dreigeschossiger Sozialeinbau

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Blick in das neu eingebaute Treppenhaus, über das die drei Geschosse der Sozialräume erschlossen werden © TRANSARA
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Blick in die Bücherei © TRANSARA

Hinter der Trennwand zum verkleinerten Gottesdienstraum, im ehemaligen Langschiff der Nachkriegskirche, findet sich der dreigeschossige Einbau. Er nimmt die Räumlichkeiten der Caritas-Sozialstation, den Pfarrsaal, Gruppenräume, Küche, Sanitäranlagen, öffentliche Bücherei, Kleiderkammer, Pfarrbüro und Archiv auf.

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Längsschnitt durch das Nachkriegskirchenschiff vor dem Einbau der dreigeschossigen Sozialraumeinheit © TRANSARA
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Längsschnitt durch das Nachkriegskirchenschiff nach dem Einbau der dreigeschossigen Sozialraumeinheit © TRANSARA

Sakral

Aus einem überdimensionierten, exklusiv für Messfeiern konzipierten Raum wurde ein Zentrum für soziale, kulturelle und spirituelle Belange. Die Bereiche sind getrennt, aber nicht voneinander abgeschottet. Dadurch bleibt der Zusammenhang der Grundvollzüge kirchlichen Engagements transparent. Ein Tag und Nacht geöffneter Zugang zur Werktagskapelle ermöglich jederzeit den Blick in den neu gestalteten Kirchenraum.

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Blick auf die Altarinsel und die geschlossene Sakristeiwand vor dem Umbau, 2011 © LVR
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Blick auf den neu gestalteten Altarraum und die geöffnete Sakristeiwand mit dahinter liegender historischer Kapelle © TRANSARA

Gemeinschaftsstruktur

Das für Gottesdienste verbliebene ehemalige Transept bietet genügend Raum für eine auf ebener Fläche angeordnete, die Gemeinschaft betonende Versammlungsgestalt durch kreisförmige Anordnung von Bänken um einen zentralen Altartisch.

Eucharistie und Taufe

Durch die Öffnung der Seitenwand zum historischen Gebäudeteil konnte ein eigener Raum für die Aufbewahrung der Eucharistie geschaffen werden, auf dessen Schwelle der Taufstein platziert wurde. Auf diese Weise ist die Geschichte des Ortes wieder transparent geworden, die auch durch die Platzierung einiger Ausstattungsstücke aus dem alten Bestand präsent bleibt.

Neuer Zugang und offenes Konzept

Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung des Hauptzugangs von der Seite, also von der eigentlichen Ortsmitte her. Er führt zunächst in einen separaten Andachtsraum, welcher durch ein Gitter vom Hauptraum abgetrennt ist. So wurde eine ganztägige Öffnung ohne Aufsicht ermöglicht. Damit ist gegenüber der sonst vollständig außerhalb der Gottesdienstzeiten geschlossenen Kirche ein allen offenstehender Raum der Stille geschaffen worden. Das offene Konzept setzt sich in den im ehemaligen Kirchenschiff untergebrachten Funktionsräumen fort.

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Blick auf den neu entstandenen Andachtsraum „hinter Gittern“ © TRANSARA

Bürgerschaftliche Veranstaltungsräume

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Blick in die öffentliche Bücherei im EG © TRANSARA

Die Veranstaltungsräume im Erdgeschoss sind nicht nur kirchlichen Gruppen, sondern potenziell der ganzen Bürgerschaft zugänglich, die Bücherei fungiert als öffentliche Bücherei und übernimmt kommunale Aufgaben. Dasselbe gilt für die Caritas, die ebenfalls nicht konfessionell begrenzt arbeitet. Auf Dauer kann man sich vorstellen, das Gemeindezentrum ökumenisch zu betreiben, da die Beziehungen zwischen beiden Konfessionen am Ort ausgezeichnet seien


TRANSARA-Perspektiven

Aus der Perspektive der Liturgiewissenschaften lässt sich festhalten, dass aus einem überdimensionierten, exklusiv für Messfeiern konzipierten Nachkriegskirchenraum ein Zentrum für soziale, kulturelle und spirituelle Belange wurde. Die Bereiche sind getrennt, aber nicht voneinander abgeschottet. Dadurch bleibt der Zusammenhang der Grundvollzüge kirchlichen Engagements transparent.

Hier liegt ein interessantes Beispiel für eine Umnutzung gemeinsam mit der Caritas vor, das einer Raumlogik der Separation zugeordnet werden kann.  In Bezug auf Trennungen und Übergänge zwischen den beiden Nutzungen erscheint uns die komplexe Raumstruktur chancenreich. Es ist ein Ort entstanden, der das, was Kirche ist, in seiner Vielschichtigkeit sozialraumorientiert zum Ausdruck bringt.

Eine Nachkriegskirche im ländlichen Raum, die trotz überschüssiger Raumgröße und fehlendem Denkmalstatus (nur teilweise) nicht abgerissen, sondern in vollem Raumumfang dank Transformation und Teilumbau erhalten werden konnte.

Der Betrieb durch die Caritas ist aus immobilienwirtschaftlicher Sicht positiv zu werten, da es sich um eine langfristige Mieterin mit Kirchenbezug handelt, die zusammen mit öffentlichen Mitteln (für die Bibliothek) die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Projektes sicherstellt. Die erzielten Einnahmen sind aufgrund der kostenintensiven Instandhaltungsarbeiten dringend notwendig, die Investitionskosten konnten nur durch den Verkauf umliegender Begleitbauten und zusätzliche Mittel gedeckt werden. Der Umnutzungsprozess mit Beteiligung der breiten Öffentlichkeit (bspw. gemeinsames Stampfen des Betons für die Fundamente) sowie die kostenlose oder vergünstigte Mitnutzung durch umliegende Schulen (bspw. für „Leseführerschein“ etc.) sowie Initiativen und Schaffung einer Begegnungsstätte schaffen Akzeptanz in der Bevölkerung und sind vor dem Hintergrund des großen „Social Impacts“ äußerst positiv hervorzuheben. Durch engagierte Referent*innen und Ehrenamtliche sowie die Bevölkerungsbeteiligung vor Ort konnte hier ein Best-Practice-Beispiel einer erfolgreichen Transformation geschaffen werden.

Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie zeigt sich: In einer Gesellschaft, in der Räume ein knappes Gut sind, ist die Öffnung von St. Maria für diverse Nutzer*innen ein diakonischer Akt. Der Sakralraum wurde dafür wie beschrieben, verkleinert – allerdings als solcher nicht tangiert, er bleibt Sakralraum und steht nicht zur Disposition. Daraus lässt sich lernen: Aus der Veränderung des Sakralraums (als Container) folgt nicht automatisch eine Veränderung von dessen Gebrauch.


Links und Literatur

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