Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Leipzig, Paulinum - Aula und Universitätskirche St. Pauli

EinRaum – UniversitätKircheKultur

Baujahr: 2017
Architekt:
Erick van Egeraat
Denkmalstatus:
nein

Aula und Universitätskirche St. Pauli

Umbau: nein
Entwidmung:
nein
Verkauf: nein

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Außenansicht vom Augustusplatz aus © TRANSARA

Konfession: evangelisch

Eigentümerin: Universität Leipzig

Lage / Adresse: Neues Augusteum, 04109 Leipzig
Im Zentrum Leipzigs am Augustusplatz, einem der größten Stadtplätze Deutschlands; Bestandteil des Hauptcampus der Universität


Bau

Neubau in postmodern-expressiver Formensprache mit steil zulaufendem Spitzdach. Universitätsaula und angrenzender Kapellenraum weisen modern interpretierte gotische Elemente auf.

Transformation

Es ist – schon im Namen – ein Bindestrichgebäude, ein gebauter Kompromiss, ein Gebäude, das eine Wunde in der Stadtgeschichte in Stein fasst und damit die Auseinandersetzung mit dieser ermöglicht. Die Transformation kann nur historisch kontextualisiert erzählt werden.

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Walther Wendorf: Paulinerkirche mit Kontrollstelle in der letzten Woche vor der Sprengung. Mai 1968 © Universität Leipzig, Kustodie | Kunstsammlung der Universität Leipzig
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Fritz Cölln: Paulinerkirche, Blick von der Orgelempore in den Chor, um 1920 © Universität Leipzig, Kustodie | Kunstsammlung der Universität Leipzig

An zentraler Stelle im innerstädtischen Herzen Leipzigs, in direkter Nachbarschaft zu Oper, Gewandhaus und Mendebrunnen, stand bis 1968 die Kirche des Dominikanerklosters aus dem 13. Jh. direkt neben der Universität. Bereits 1543 wurde sie durch Schenkung Universitätskirche, die Bestattungstradition wird mit akademischen Honoratioren fortgesetzt. Musikalisch ist die Paulinerkirche verbunden mit großen Namen wie Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy oder Max Reger.

Obwohl sie den Krieg unbeschadet überstanden hat, fällt das Politbüro des ZK der SED im Mai 1968 den Beschluss, die Kirche zu beseitigen, um Platz für einen neuen, sozialistischen Campus zu machen. Der Senat der Universität und die Leipziger Stadtverordnetenversammlung stimmen zu. Innerhalb einer Woche werden in höchster Eile – und zulasten der Kunstwerke – etliche Ausstattungsstücke aus der Kirche geborgen, eine Woche nach dem Beschluss wird sie trotz vielfältiger Proteste gesprengt. 1975 wird am Neubau der Karl-Marx-Universität, auf der Höhe, wo früher der Altar stand, das sozialistische Relief „Aufbruch“ installiert.

Schon in den 1990ern setzen Diskussionen um einen Wiederaufbau ein. Dem folgt jahrelanger Streit, in dem Fragen der Erinnerungspolitik, der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Diktatur, der Rolle von Religion in einer weitgehend konfessionslosen Gesellschaft und an einer säkularen Universität sich überlagern und verhaken. Nach zwei Ausschreibungen, einer notwendigen externen Vermittlung und langen Bauverzögerungen wird 2017, fünf Jahre nach Eröffnung des umgebenden neuen Universitätscampus des Architekten Erick van Egeraat, auch das Paulinum eingeweiht – getrennt mit einer akademischen Feier und einem Gottesdienst. Die Fassade nimmt sowohl den Ursprungsbau als auch die Verschiebung des Giebels im Verlauf der Sprengung künstlerisch auf – und zugleich ist es ein konzeptionell ganz eigenständiger Neubau.

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Zerstörte Reliefs, 2002 © Universität Leipzig, Kustodie | Kunstsammlung der Universität Leipzig

In der Diskussion wurden v.a. säkulare und religiöse Logiken gegeneinander ins Spiel gebracht. Der neue Raum nimmt jedoch mit den alten Nutzungsbereichen faktisch mindestens vier Nutzungslogiken in sich auf: multifunktionaler Veranstaltungsraum der Universität, Konzertort der Universitätsmusik, Universitätskirche v.a. mit Gottesdiensten an allen Fest- und Sonntagen sowie wöchentlichen Vespern, Ausstellungsraum für die restaurierten Epitaphien durch die Kustodie/ Kunstsammlung der Universität.


Raum

Einerseits ist der Raum deutlich in zwei Teile getrennt. Eine Plexiglaswand sichert die klimatischen Bedingungen für den restaurierten Paulineraltar und die geretteten Epitaphien und ist zugleich Projektionsfläche für eine Separation von „religiösem“ und „weltlichem“ Bereich, „Andachtsraum“ im Osten und „Aula“ im Westen. Für eine akustische Verbesserung und Sichtabtrennung kann vor der Glaswand auch noch ein Vorhang geschlossen werden.

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Altarraum mit zuziehendem Vorhang © TRANSARA
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Blick zur Decke in der Aula © TRANSARA
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Blick zu den Fenstern in der Aula © TRANSARA

Und dennoch: Sowohl baulich als auch in der religiösen Designation ist der gesamte Raum Aula und Universitätskirche St. Pauli zugleich. Die weiß gestrichene Decke des „Kirchenschiffes“ mit einer an gotische Netzgewölbe erinnernden Struktur überspannt beide Räume. Auch im Aulabereich finden sich mit den leuchtenden Säulenfragmenten, die von der Decke herabhängen und den Boden nicht erreichen, mit der Orgel auf der Empore und den gotisch geformten Fenstern Elemente, die „Kirche“ markieren. Im schlicht ausgestatteten Altarraum finden sich die gleichen Stühle wie in der Aula, nur i.d.R. chorisch aufgestellt.

Das Gesamtbild wirkt artifiziell – manchmal fällt der Begriff „Disneyland“. Als „weißer Raum“ bietet er Gelegenheit für weltanschaulich und erinnerungspolitisch kontroverse Projektionen ebenso wie für sehr vielfältige Nutzungen – nicht selten unter Zuhilfenahme von farbiger Beleuchtung und ganz unterschiedlicher Möblierung.

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Fenster zur Stadt © TRANSARA

Es gibt allerdings nicht nur die Glaswand zwischen den beiden Raumteilen. Es gibt auch noch schmale Glasfenster an den beiden Seiten, genau hinter der Glaswand. Auf der einen Seite erlauben diese einen Einblick in die Universität, wo v.a. die Fakultät für Mathematik und Informatik und das Universitätsrechenzentrum direkt neben und auch einige Etagen über der Aula/ Universitätskirche ihre Räume haben; auf der anderen Seite öffnen sie den Blick in die Stadt.

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Fenster zur Universität © TRANSARA

Sakral

Für die Universitätsgottesdienste in dem Raum, welcher zwar eine geweihte lutherische Kirche in der EVLKS ist, aber keine parochiale Gemeinde hat, war manchen Kritiker*innen zum Trotz der Altarbereich von Anfang an nicht ausreichend. Durch die erfreulich hohe Resonanz, die der Raum für Tourist*innen, frühere Bewohner*innen der Stadt, die sich an die alte Universitätskirche erinnern oder biografisch mit ihr verbunden sind, aber gerade am Anfang auch für Stadtbewohner:innen mit sich brachte, ist bis heute die Öffnung auf den Gesamtraum erforderlich. Nur die Universitätsvespern, bei denen etwa aktuell bekannte Persönlichkeiten aus der Stadt ihren liebsten Bibelvers auslegen, finden im Altarraum statt. Für die Gottesdienste wird die Glaswand geöffnet, der Altar nach vorne verlegt und der gesamte Raum genutzt.

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Altar vor der Glastrennwand zur Aula, 2021 © TRANSARA

Die ideologische Kontroverse hat sich damit – im Rahmen eines pragmatischen und kooperativen Miteinanders der unterschiedlichen Nutzungsbereiche – in eine baufachliche Schwierigkeit verlagert. Jede Öffnung der Glaswand und damit plötzliche Veränderung der Klimatisierung im Altarraum schadet den Kunstwerken, v.a. den auf Holz gemalten Elementen. Eine Klimatisierung des Gesamtraums, mit der die Glaswand sachlich hinfällig wäre, wird immer wieder erwogen, scheitert bisher aber am finanziellen Aufwand.

Spannend bleibt auch die Diskussion um die Aufstellung der aus der alten Kirche geretteten Barockkanzel. Eine Aufstellung im Bereich der Aula aktiviert eine Gegnerschaft, die Befürworter*innen dagegen sehen bislang keine andere Möglichkeit als die tradierte Aufstellung im „Kirchenschiff“.

Die Trennung zwischen „religiös“ und „säkular“ wird jedoch auch bei vielen anderen Nutzungen verwischt oder überschritten. Bei der Gedenkfeier für die Verstorbenen der Universität oder beim Weihnachtsliedersingen spielen die unterschiedlichen Nutzungslogiken explizit zusammen. Aber was macht beispielsweise der Blick in den Altarraum hinter den Powerpoint-Folien bei den Empfängen der Universität, wo zwar die Glaswand, aber nicht der Vorhang geschlossen ist? Einen Einblick haben wir in diese Nutzer*innenperspektiven aus Berichten der Universitätsmedizin. Ja, der Universitätsmedizin! Diese hatte im Paulinum 2021/22 ein temporäres Impfzentrum eingerichtet. Die Patient*innen haben die Wartezeit im Aulabereich verbracht und haben sich dezidiert gewünscht, dass auch im Altarbereich Licht brennt. Für den leitenden Arzt war klar, dass auch die Raumatmosphäre für den guten Ruf des Projekts gesorgt hat.

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Impfzentrum, 2022 © TRANSARA

TRANSARA-Perspektiven

Der Neubau stellt einen Kompromiss zwischen Verfechtern eines rekonstruierenden Wiederaufbaus und denen eines vollständig säkularen Neubaus dar. Die sakralen Elemente des Raums wirken inszeniert und musealisiert – das Ergebnis ist das einer säkularisierten Sakralität hinter Plexiglasscheiben.

Ein profiliertes Beispiel für einen religiösen Raum im Kontext einer nach eigenem Selbstverständnis (in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft) säkularen Institution. Die Simultaneität der verschiedenen Nutzungslogiken, die in der Konzeptionsphase von heftigen Kontroversen geprägt war, hat sich im Alltag weitestgehend eingespielt – beispielgebend und ermutigend für ambitionierte hybride Projekte? Deutlich wird, dass in diesem Raum auch die Rolle von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft spannungsreich verhandelt und immer wieder neu entworfen wird.

Aus kunsthistorischer Perspektive ist das Paulinum ein spannender Fall, da das heutige Gebäude als eine Art „Wiedergutmachung“ für die vom DDR-Regime abgerissene Universitätskirche fungiert. An der Fassade des Neubaus und in der Kubatur sind noch Andeutungen dieses verlorenen Baus erkennbar, wodurch das heutige Paulinum an die Geschichte und die Signifikanz dieses Ortes erinnert. Mit dem neuen Gebäude entsteht hier ein Hybridbau, der den Typus Kirche und Universitätsgebäude zusammenfasst und dem Raum eine neue Bedeutungsebene verleiht.

Aus Sicht der Immobilienwirtschaft stellt das Fallbeispiel der Universitätskirche St. Pauli in Leipzig ein interessantes Beispiel eines Kirchenneubaus für universitäre Zwecke dar. Durch den Einbezug der Universität als Nutzende wird die Zukunftsfähigkeit des Projekts - in betrieblicher wie finanzieller Hinsicht - sichergestellt. Trotz der Neudeutung ist es gelungen, den Sakralbau einer weiterhin öffentlichen Nutzung zuzuführen und darüber hinaus einen neuen Quartiersmittelpunkt in der Leipziger Innenstadt zu etablieren. Eine Umnutzung hat aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive nicht stattgefunden, da es sich um kein Redevelopment, sondern einen kompletten Neubau im Campuskontext handelt. Hervorzuheben ist jedoch die Bedeutung der sinnstiftenden Kooperation mit Bildungsinstitutionen wie Universitäten im Zuge künftiger Sakralraumtransformationen.


Links und Literatur

  • Hiller von Gaertringen, Rudolf, Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli Leipzig (Kleine Kunstführer 2922), Leipzig 2020.
  • Schmidt-Lux, Thomas, Kirche und Aula zugleich? Eine Gebäudeinterpretation des Leipziger Paulinums, in: Architekturen und Artefakte (2017), 121–144.
  • Zimmerling, Peter (Hg.), Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Festschrift zur Wiedereinweihung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2017.
  • Darin: Alexander Deeg: Zwischen Aula und Kirche, Kulturwissenschaftliche und theologische Perspektiven zum neu entstandenen Bindestrich-Gebäude und Konsequenzen für die Nutzung, 275–282.
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