Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Leipzig,
Inklusionshotel Philippus

Mit (Jugend)Stil tagen

Baujahr: 1907-10
Architekt: Alfred Müller
Denkmalstatus: Ja

Bis 2002 ev.-luth. Kirchengemeinde Leipzig-Lindenau-Plagwitz, Kirchenbezirk Leipzig


Umbau (Pfarrhaus): 2016-2018
Architektin: Christiane Domke, Markkleeberg
Entwidmung: Nein
Verkauf: 2012

Außenansicht mit Glasaufzug
© TRANSARA

Konfession: evangelisch-lutherisch

Heutige Eigentümerin: BBW-Leipzig-Gruppe (diakonischer Träger) mit den Geschäftsbereichen Kindertagesstätten, Jugend- und Erziehungshilfeverbund, Schulische Bildung, Berufsbildungswerk, Werkstatt für behinderte Menschen sowie Inklusionsbetriebe

Lage / Adresse: Aurelienstr. 54, 04177 Leipzig
Im südwestlichen Leipziger Stadtteil Lindenau, Stadterweiterungsquartier des 19. Jahrhunderts, städtebauliches Fördergebiet


Bau

Jugendstil-Ensemble aus Kirche mit hohem Turm und angrenzendem Pfarrhaus mit Glasaufzug

Transformation

Das einzige, was von außen Zeugnis der Transformation ablegt, ist der markante, gläserne Aufzugsturm, der vom Karl-Heine-Kanal, Leipziger Hauptroute für Gelegenheitspaddler, sichtbar ist. Entsprechend oft wird er fotografiert, um zu zeigen: Diese Kirche ist umgenutzt. Der gläserne Turm erschließt das ehemalige Pfarrhaus, das seit 2018 als Inklusionshotel betrieben wird, mit einem etwas versteckten, barrierefreien neuen Zugang. Eine zu DDR-Zeiten sehr heruntergekommene und durch eine Gemeindefusion (1999 mit der Heilandsgemeinde) überzählig gewordene Kirche findet damit eine neue, diakonische und kulturelle Profilierung.

Beherbergung, Bewirtung und Botschaft

Drei Begriffe stehen als Überschrift über dem Konzept, das in Kooperation mit Hochschule und Zivilgesellschaft, Machbarkeitsstudie und Ideenworkshop nach dem Verkauf 2012 erarbeitet wurde: Beherbergung, Bewirtung und Botschaft.

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Eingang zum Inklusionshotel © TRANSARA
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© TRANSARA

Beherbergung – das ist ein Hotel garni mit 29 Zimmern, ausgestattet für die besonderen Bedürfnisse von Körperbehinderten, Blinden, Gehörlosen, Senioren, Familien. Auch der Betrieb selbst arbeitet inklusiv. Dazu gehören dann auch der Tagungsraum im historischen Kirchensaal (120 m²) und ein Seminarraum (37 m²).

Bewirtung – das ist die Frühstücksküche im EG, der Biergarten, das Catering für Tagungen im Haus sowie Schulversorgung.

Biergarten
Biergarten mit Blick auf Kirche und Hotel © TRANSARA
Veranstaltung in der Kirche
Veranstaltung in der Kirche © TRANSARA

Und Botschaft – das steht für die kulturellen und religiösen Angebote, die das Theologische Team im Kirchenraum entwickelt: schon seit 2012 der Abendgottesdienst „Licht an!“, auf dem Kirchplatz beginnend, wöchentlich Andachten und Abendmahl sowie die Reihe „Konzerte am Kanal“ mit hochkarätigen Musiker:innen aus Leipzigs Kultur-Szenen. Seit kurzem auch Yoga und ein Gottesdienst als „Wohnzimmerkirche“. Das diakonische Unternehmen leistet sich nicht nur ein Theologisches Team, das diesen Bereich neben Aufgaben in der Unternehmensgruppe bespielt, sondern mit Philippus auch eine eigene Kirche. Das ist ungewöhnlich, profilbildend und manchmal wohl auch ein Zuschussgeschäft.


Raum

Philippus, das ist nicht nur die Kirche, sondern ein Ensemble, bestehend aus einem großen Kirchengebäude mit 52 m hohem Turm, dem im rechten Winkel ein Pfarrhaus sowie ein Gemeindesaal angegliedert sind. Der gesamte Komplex entstand bis 1910 in der Formensprache von Neubarock und Jugendstil.

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Inneres nach Südwesten mit Blick auf die Emporen © TRANSARA

Der hoch überkuppelte Kirchenraum auf zentralem Grundriss mit umlaufender Empore kann mit seiner konzentrischen Bestuhlung ca. 700 Plätze aufnehmen. Er entspricht in der Konzeption als sakraler Gemeinschaftsraum den Vorgaben des sogenannten „Wiesbadener Programms“ – einem evangelischen Reformprogramm von 1890, das mit dem Einheitsraum die Gemeinschaft der Gemeinde und die Bedeutung der Musik betonte.

Wie ein Amphitheater oder Hörsaal

Ähnlich wie in einem Amphitheater oder Hörsaal sind hier das Gestühl (Eichenholz-Klappsitze) und die Emporen der „Bühne“ mit Kanzelaltar und Orgelempore zugeordnet, so dass optimale optische und akustische Verhältnisse für alle Gottesdienstteilnehmenden gegeben waren und sind. Ebenso gibt es seit der Entstehungszeit der Kirche die Verbindungsgänge und -türen vom Sakralraum zum angrenzenden Gemeindesaal und Pfarrhaus, so dass es sich bei Philippus um ein multifunktionales Gemeindezentrum handelt.

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Inneres nach Nordosten mit Blick auf Kanzelaltar und Orgelempore © TRANSARA

Konservatorische Strategie

Obwohl der Kirchenraum am Beginn von Sanierung und Umbau stark heruntergekommen war, entschied man sich während des Transformationsprozesses und in Absprache mit der Denkmalpflege für eine konservatorisch-restaurierende Strategie und den Erhalt vom originalen Raumvolumen, der Ausstattung und Dekoration, um die harmonische Gesamtkomposition dieses Jugendstil-Kirchenraums wieder zu beleben und für das neue Nutzungsprofil einzusetzen.

Die harmonische Gesamtkomposition des Raums hatte im Transformationsprozess dann wohl auch ihre eigene dynamische Wirkung, denn nach ersten Ideen zu einem ausgeräumten und mit kleineren Einbauten versehenen Multifunktionsraum wurde dieser doch noch als Einheitsraum saniert. Mit viel Eigenbeteiligung wurden der bröckelnde Putz, die Gaslampen, der riesige Kronleuchter und alles im Hintergrund instandgesetzt. Bei aller Freude über den wiedergewonnenen Raum wird jedoch manchmal schmerzhaft deutlich: wo man auf einer Baustelle „mit bröckelndem Putz“ vieles machen kann, begrenzt ein nahezu perfekt sanierter Raum mit festem Gestühl die Optionen der Bespielung.

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Jugendstil-Kronleuchter in der Kirche © TRANSARA

Jugendstil barrierefrei

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Aufenthaltsraum der Ehrenamtlichen © TRANSARA

Die notwendigen technischen Neuerungen wie eine Fußbodenheizung, Licht- und Tontechnik, Hörschleife, Rollstuhl-Plätze und der Hublift zum Sanitärtrakt im Untergeschoss wurden balancierend zwischen den hohen denkmalpflegerischen Auflagen und der angestrebten und ausdrücklich erwünschten Barrierefreiheit umgesetzt. Ein Versammlungs- und Aufenthaltsraum der Ehrenamtlichen im Untergeschoss eröffnet infrastrukturellen und sozialen Rückhalt für die Veranstaltungen.


Sakral

Philippus ist ein Beispiel diakonischer Kirchen(um)nutzung und hat Potential, die Verbindung von Kirche und Diakonie zu stärken. Der Kirchenraum wird als öffentlicher und sozialer Raum erhalten und neu profiliert. Nach einer Phase des Experiments (mit „bröckelndem Putz“) begann nach der Pandemie die Phase der Etablierung. Neue Nutzungsregulationen werden dabei ebenso neu verhandelt wie die Ziele des komplexen Projekts.

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Kanzelaltar mit Orgelempore © TRANSARA

Inklusive Form des Kircheseins

Inklusion wird dabei nicht nur verstanden als Integration von Menschen mit Beeinträchtigung im Arbeitsmarkt oder Zugänglichkeit und Barrierefreiheit, sondern auch als Suche nach Öffnung für Kirchendistanzierte, sprachliche Barrierearmut – mithin: der Suche nach einer inklusiven Form des Kircheseins in der säkularen Gesellschaft. Mit der Suche nach dieser mehrdimensionalen Inklusivität verbunden sind (neue) Deutungen des Raums, auch der historischen Raumkonzeption der Kirche und ihrer gemeinschaftsfördernden und barrierearmen Anlage.

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Projekt "Wohnzimmerkirche" © TRANSARA

Kirche trotz Verkauf

Weil der Verkauf der Kirche eine der ersten vollständigen Umnutzungen in der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens darstellt, war die bleibende Widmung zunächst ein prekärer Punkt. Heute scheint sie unhinterfragt.


TRANSARA-Perspektiven

Der Kirchenraum ist in seiner besonderen liturgischen Ausrichtung zunächst einmal erhalten worden, was ihn in seinen Nutzungsoptionen einerseits einschränkt, andererseits in seiner historischen Bedeutsamkeit würdigt. Es wäre wünschenswert, dass zukünftig stadträumliche Aktionen in diesem Raum stattfinden können, um das Potential und Möglichkeiten der Nutzungskooperationen zwischen privatem Hotelbetrieb und Öffentlichkeit auszuloten.

Es deutet sich eine Spannung an zwischen der notwendig auch ökonomischen Logik des Hotel- und Veranstaltungsbetriebs sowie der Logik des ehrenamtlich getragenen Kultur- und Gottesdienstbereichs. Konfliktpunkte sind etwa die Inanspruchnahme ehrenamtlicher Mitarbeit, die Frage nach Mietkosten für den Kirchenraum (und Kriterien für deren Reduktion), Verantwortung für die Programmgestaltung in der Kirche, Prioritäten bei der Raumvergabe. Diese Spannung ist an manchen Stellen auch räumlich greifbar, etwa in den unterschiedlichen Zugängen ins Gebäude oder der (akustisch) sensiblen Membran der Glaswand zwischen Kirchenraum und Saal.

Aus denkmalpflegerischer Sicht sind Umbau und Umnutzung der Philippuskirche gelungen, da die Kirche weiterhin stadträumlich als Markierung funktioniert. Der Gottesdienstraum nach dem Wiesbadener Programm bleibt mit originaler Bausubstanz und Ausstattung erhalten und ermöglicht dennoch eine zeitgemäße Hybridnutzung als Sakral- und Veranstaltungsraum. Schade ist, dass das Hauptportal der Kirche nicht weiterhin als Haupteingang genutzt wird, dadurch erhält der Kirchenraum etwas nach außen hin Geschlossenes, das seiner Ursprungsidee als öffentlichem Gemeinschaftsraum mitten im Stadtviertel zuwiderläuft.

Aus immobilienökonomischer Sicht bietet das Kirchengebäude mit seiner zentralen Lage in einem Stadtteil mit hoher sozialer Nachfrage großes Potenzial für eine nachhaltige Quartiersentwicklung. Im Blick auf die Nutzung sowie die Größe des Hotels und die Vermarktungsstrategie stellt sich jedoch die Frage, ob diese Potenziale schon ausgeschöpft werden. Insbesondere ist die Wirtschaftlichkeit eines Hotels in dieser Größe fraglich, die Konkurrenzfähigkeit ist ggf. nur über die Preispolitik sichergestellt und Bedürfnisse der Bevölkerung vor Ort werden durch eine Hotelnutzung ggf. nicht berücksichtigt. Zudem ist der USP (dt. Alleinstellungsmerkmal) Inklusion nicht konsequent herausgearbeitet: nicht alle Räume sind vollständig barrierefrei und es sind anteilig nur relativ wenige Mitarbeiter mit Behinderung angestellt, weshalb auch das avisierte Inklusionskonzept fraglich bleibt. Es muss kritisch evaluiert werden, ob Standort- und Marktanalyse bzw. Machbarkeitsstudie ausreichend durchgeführt wurden. Des Weiteren ist zu evaluieren, ob der aus dem Objekt generierte Nutzen die veranschlagte Investitionssumme rechtfertigt. Positive Effekte für das Quartier im Sinne einer Sozialrendite (bspw. über Schaffung einer Begegnungsstätte, Hilfe für Bevölkerung vor Ort etc.) konnten trotz diakonischer Nutzung nicht festgestellt werden.

Die verschiedenen Bereiche in Philippus lassen sich aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie als sakral-profan-Konstellation lesen. Das heißt, hier haben die Bereiche verschiedenste Verbindungen untereinander. Diese Verbindungen sind gewachsen und wachsen, haben also einen Prozesscharakter, dessen Merkmal unter anderem das Streben nach Inklusion ist. Die hohe Professionalisierung der unterschiedlichen Bereiche (Hotel, Bewirtung, kulturelle und religiöse Angebote) sowie die Sanierung sind auf diese Weise wohl aus Kostengründen nur in einem prosperierenden großstädtischen Raum möglich.


Links und Literatur

  • https://www.philippus-leipzig.de

  • Dokumentationen des Projekts unter:  https://www.philippus-leipzig.de/ueber-uns/aktuelles/downloads/

  • Magirius, Heinrich u.a., Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen, Stadt Leipzig, Die Sakralbauten, Bd. II, Berlin / München 1995, 1239-1249.

  • Menzel, Kerstin / Deeg, Alexander / Karstein, Uta, Simultaneität – Synergie – Symbiose? Brüche und Wechselspiele zwischen kirchlich-gemeindlichen und diakonischen Logiken, in: Menzel , Kerstin Deeg, Alexander (Hg.), Diakonische Kirchen(um)nutzung (Sakralraumtransformationen 2), Münster 2023, 153–188 (open access).

  • Menzel, Kerstin, Sakralraumtransformation als Aushandlungsprozess. Differenzierungen im Blick auf Prozess und Akteure. Response zu Dunja Sharbat Dar, in: Gerhards, Albert (Hg.), Kirche im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven zur Transformation sakraler Räume (Sakralraumtransformationen Bd. 1), Münster 2022, 229–244 (open access).

  • Petter, Uta, Die Philippuskirche in Leipzig-Lindenau – Gründung, Konzeption, Baugeschichte, Baugestalt, Leipzig 2008 (unveröffentlichte Magisterarbeit).
     

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