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Merseburg, Neumarktkirche St. Thomae - Kunstraum und Pilgerunterkunft

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Bauzeit: um 1188
Architekt:
mittelalterlicher Baumeister
Denkmalstatus:
ja

Evangelische Kirche im Kirchenkreis Merseburg

Sanierung, Wiederinbetriebnahme: ab 1993
Architekten:
u.a. Hartkopf denk mal Architektur
Entwidmung:
nein
Verkauf: nein

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Außenansicht © TRANSARA

Konfession: evangelisch

Eigentümer/ Trägerschaft: Ev. Kirchengemeinde Merseburg

Lage / Adresse: Kirchstraße, 06217 Merseburg
am Rand der historischen Altstadt von Merseburg, unmittelbar an der Saale und der mittelalterlichen Neumarktbrücke gelegen


Bau

Romanische Basilika mit Turm im Westen und Querschiff sowie Choranlage im Osten

Transformation

In welchen Zeiten hat diese romanische Kirche, die im Schatten des Merseburger Dombergs direkt an der Saale steht, keine Transformation gesehen? Verfall und immer wieder Hochwasser, verlegte Portale, verlorene und wiedergewonnene Seitenschiffe, Außerdienststellung, Aufschütten des Bodens zur Trockenlegung, eine Zwischennutzung für den Handel mit Kunstwerken zur Devisenbeschaffung in der DDR, Leerstand und Freilegung des ursprünglichen Bodenniveaus.

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Inneres nach Westen mit Blick zur Pilgerempore, 2021 © TRANSARA
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Kunstausstellung unter der Pilgerempore, 2021 © TRANSARA

Transformation ohne Anfang und Ende

Das Wohl und die Wehen der Jahrhunderte haben sich in das Gebäude eingeschrieben, so dass es gar nicht einfach ist, den Beginn der Transformation zu benennen. Heute nun ist sie gelegentlich Gottesdienstort, öfter Konzert- und Ausstellungsraum und vor allem Pilgerübernachtung auf dem Ökumenischen Pilgerweg, der von Ehrenamtlichen 2002 ins Leben gerufen wurde.

Pilgerherberge

Auf der Empore schlafen insgesamt rund 160 Pilgerinnen und Pilger im Jahr. Platz bietet die Empore für zwei bis drei einfache Feldbetten. Von dort aus haben die Pilgerinnen und Pilger den freien Blick in den mittelalterlichen Kirchenraum, hören Musik und ruhen ihre müden Füße aus. Aus einer leerstehenden Kirche ist tagsüber eine offene und nachts eine „private“ Kirche geworden. Auf der Webseite findet sich folgender Willkommensspruch: „Es gibt bei uns eine Toilette und Waschbecken, Campingliegen und Wolldecken, Wasserkocher und Wärmflaschen, einen Sonnenaufgang in der Kirche und nette Menschen.“

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Blick vom Pilgerbett in den Kirchenraum, 2021 © TRANSARA
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Ausstattung der Pilgerempore, 2021 © TRANSARA

Raum

Ein für die Region sehr typischer und maßgebender romanischer Kirchenbau: eine Basilika aus hellem Sandstein, die sich additiv aus mehreren Baukuben zusammensetzt. Im Westen findet sich der Kirchturm und im Osten ein Querschiff sowie die Choranlage.

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Romanisches Hauptportal mit Knotensäule im Norden, 2021 © TRANSARA

Kirche tiefergelegt

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Treppe in den tiefer gelegten Kirchenraum mit Blick auf Wandinstallation, 2021 © TRANSARA

Heute fehlen das nördliche Seitenschiff und die südliche Nebenapsis sowie die mittelalterliche Sakristei: Sie wurden bereits 1826 aufgrund des schlechten Baugrundes abgerissen. Wenn man die Kirche über das Hauptportal mit seiner legendären Knotensäule betritt, wundert man sich zunächst, dass man einige Stufen hinab in den Kirchenraum steigen muss: Das durch die Jahrhunderte abgesackte Kirchengebäude liegt fast zwei Meter tiefer als seine Umgebung; bei der Grundsanierung von 1991 bis 1995 wurde das originale Bodenniveau von 1188 wieder ausgeschachtet.

Raumwirkung des Ursprünglichen

Im Inneren ist der schlichte geometrische Schnitt des Kirchengebäudes fortgesetzt, mit Säulen, Rundbogenöffnungen, hoher Flachdecke und geschlossenen glatten Wänden. In diesem leer und offen wirkenden Kirchenraum sind vereinzelt zeitgenössische Kunstwerke platziert, an ursprünglichen liturgischen Orten, aber auch frei im Raum.

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Raumwirkung des Ursprünglichen © TRANSARA

Empore für Gäste

Die auf der Westempore seit 1993 installierte Pilgerherberge ist vom Kirchenschiff aus kaum zu erkennen und wird erst beim Betreten der Empore richtig wahrnehmbar.

Prominente Konkurrenz gleich nebenan

Als eine wichtige Station auf der „Straße der Romanik“ in Sachsen-Anhalt ist die Neumarktkirche natürlich eines der bedeutendsten romanischen Baudenkmäler Merseburgs – steht aber etwas im Schatten des mittelalterlichen Merseburger Doms, der sich nur einige hundert Meter weiter befindet und seit den 2000er Jahren mit EU-Geldern aufwendig saniert und touristisch vermarktet wird.


Sakral

Die Gästebücher geben Einblick, wie die einfachen Alltagsrituale im Kirchenraum eine andere Qualität bekommen. Die Träume, die Ruhe der Nacht, die schützenden Mauern. Die Rast, das gemeinsame Mahl. Es wird gesungen, nicht nur von Chören, sondern von den Übernachtungsgästen: ein Abendlied für sich selbst oder ein Choral mit den anderen, die man unverhofft getroffen hat.

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Gästebuch © TRANSARA

Menschen segnen sich über das Buch

Menschen segnen sich und die Gastgeber über das Buch, sie sorgen ganz praktisch mit Hinweisen und Nachkäufen für die Nachkommenden. Ermöglicht wird dies durch die vertrauensvolle Schlüsselübergabe der Gemeinde. Noch nie sei etwas passiert. Am Morgen frühstücken die Gäste in der nahen Bäckerei und werfen den Schlüssel in den Briefkasten des Dompfarramts. Die Sakralität der alltäglichen Vollzüge und des Schutzraums in einer Situation körperlicher Verletzlichkeit verbindet sich mit den Kunstwerken, die christliche Themen aufgreifen und mit der Musik, die den hellen, klaren Raum zuweilen erfüllt.


TRANSARA-Perspektiven

Der Raum hat seine ursprüngliche Qualität und Würde erhalten und spricht für sich – auch wenn stellenweise eine Musealisierung durchblitzt. Die spirituelle Erfahrbarkeit des Raums wird fraglos durch die Möglichkeit der Übernachtung um eine wichtige Ebene erweitert.

Ein Beispiel für eine schlichte Form der Wiedernutzung im religiösen Kontext jenseits des Gottesdienstes. Alte Formen werden hier reaktiviert. Unterkunft, Konzertort und offene Kirche ergänzen und stärken sich gegenseitig. Räumlich gelingt dies durch eine Form der Separation, die mit einer hohen Durchlässigkeit der Bereiche rechnet. Wird es gelingen, diese Nutzung auch bei einer weiteren Schrumpfung der Gemeinde aufrecht zu erhalten?

Eine architekturhistorisch bedeutende romanische Kirche, die trotz ihrer vielen Sanierungen aufgrund der Feuchtigkeitsproblematik den schlichten Raumeindruck des Mittelalters bewahrt hat. Die fehlende liturgische Ausstattung sowie die stattdessen platzierten zeitgenössischen Kunstwerke unterstützen die Wirkung als Ausstellungsort christlicher Kunst in einem authentischen Sakralraum. Das ehemals vorhandene romanische Taufstein ist im unweit gelegenen Merseburger Dom zu besichtigen. Der einzige Umbau in der Westempore und im Turm zur Pilgerherberge mit Feldbetten, Küchen- und Sanitäreinbau ist mit einfachsten Mittel erfolgt und beeinträchtigt nicht die ursprünglich wirkende Raumatmosphäre. Die nach wie vor bestehenden Feuchtigkeitsprobleme könnten allerdings irgendwann wieder eine erneute Sanierung erfordern, der Fußboden ist mit spezieller Drainage und Plattenverlegung bereits auf zukünftige Hochwasser vorbereitet.

St. Thomae in Merseburg ist ein Erzähl-Raum mit vielschichtigen Ebenen. Sie ist je nach situativer Nutzung und Betrachtung  Kirche, Museum, Hotel und Konzertraum. Diese unterschiedlichen Sicht- und Nutzungsweisen sind jedoch nicht baulich getrennt (vgl. Heilandskirche), sondern überlagern sich mit unscharfen Grenzen und Gleichzeitigkeiten. Dabei stellen diese sich nicht gegenseitig in Frage oder stören sich gegenseitig, sondern bedingen sich sogar gegenseitig. In dieser Ambivalenz liegt die großartige architektonische Raumdeutung verortet. Ein Raum beinahe frühchristlicher Dimension, in dem alles möglich erscheint und dennoch über allem die Würde eines besonderen, heiligen Ortes schwebt.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht hat in St. Thomae keine strukturierte Umnutzung im Sinne eines Redevelopments stattgefunden. Es liegt kein neues kaufmännisches Trägerschafts- und Betreiberkonzept vor, die Eigentümerin der Immobilie ist nach wie vor die Kirchengemeinde und es fanden keine ausreichenden baulichen Eingriffe für eine tiefgreifende Nutzungsänderung statt. Die Idee zur Abwandlung des Angebotes entstand eher aus Zufall, da sich das Objekt entlang eines Pilgerweges befindet und die vorherige Nutzung nicht mehr nachgefragt wurde. Positiv hervorzuheben ist die teilweise kulturelle bzw. künstlerische Nutzung, bspw. für Events und Konzerte, die zusätzliche Einnahmen generieren können. Es ist anzuraten, dass für eine weiter notwendige Transformation externe Expertise für Analysen im Initiierungsprozess einer Immobilientransformation, wie bspw. eine Standort- und Marktanalyse, herangezogen wird.

Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie ringt St. Thomae einem Respekt ab. Ein solch alter und resilienter Bau, der über die Jahrhunderte von Menschen weitgehend unangetastet blieb, ist Auftrag und Erbe. Er hat die Fähigkeit, sich von Hochwasser zu erholen und wurde über die Zeit hinweg geachtet und respektiert. Anders gesagt: Dieser Kirchbau ist ein Akteur. Er legt quasi einen dringlichen Einspruch gegen radikale Veränderungen ein. Und so stellt sich die Frage: Haben Dinge (mit Bruno Latour gesprochen) ein Mitspracherecht in Bezug auf Transformationen? Können sie einbezogen werden? Und auf welche Weise wäre das möglich?


Links und Literatur

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