Universität Bonn

Transformationslandschaften_DE

Großkayna, Zirkuskirche

"Manege frei!"

Bauzeit: 1935
Architekt:
Johannes Reuter sen. (1897-1975)
Denkmalstatus:
ja

ehemalige kath. Pfarrkirche "Heilige Drei Könige" des Bistums Magdeburg

Umbau: seit 2013
Architektin: Beatrix Noack, Architekturatelier Halle
Profanierung: 2008
Verkauf: 2013

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Innenansicht der Zirkuskirche, 2022 © TRANSARA

Ursprüngliche Konfession: katholisch

Eigentümer / Trägerschaft: Zentrum für Zirkus und bewegtes Lernen Halle e.V.

Lage / Adresse: Grüne Straße 1, 06242 Braunsbedra OT Großkayna
am nördlichen Rand des kleinen Ortes Großkayna an einer Ausfallstraße gelegen; im renaturierten ehemaligen Bergbaugebiet Geiseltal


Bau

Saalkirche mit Einturmfront und Satteldach, übereck angebautes Pfarrhaus aus der Erbauungszeit der Kirche

Transformation

Braunkohlekirche wird zu Kinderzirkus

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Außenansicht von Südwesten, 2022 © TRANSARA

Die heutige Außenansicht erweckt noch den Eindruck einer Dorfkirche in Randlage. Allerdings erscheint das benachbarte Gebäude eher als privates Wohnhaus, mit einem Gartengrundstück, umgrenzt von einer Hecke. Im Inneren wird die Transformation jedoch direkt erfahrbar: Der Kirchensaal ist leergeräumt, weiß gestrichen und hat einen Bühnenaufbau mit Vorhängen im Chorbereich. Am Boden liegen Turnmatten, ein installierter Holzofen sorgt für angenehme Temperaturen.

Hier entsteht seit dem Verkauf der Kirche 2013 an eine Initiative für „Zirkus und bewegtes Lernen“, eine Manege und Turnhalle für Kinder und Jugendliche, die mit Sport, Spiel und Akrobatik sich selbst und andere kennen lernen können. Für die Zirkuskurse und -ferien wurde das Pfarrhaus zu einer einfachen Unterkunft mit Mehrbettzimmern umgestaltet. Auch für andere Kurse wurde das Haus genutzt. Seit 2023 finden hier auch (zwecks Querfinanzierung der Bildungsarbeit) Privatreisende über einen bekannten Hotelvermittlungsdienst die Möglichkeit einer günstigen Unterbringung im neu entstehenden Naherholungsgebiet und Umfeld von Halle und Leipzig.

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Inneres des ehemaligen Pfarrhauses, 2022 © TRANSARA
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Mehrbettzimmer, 2022 © TRANSARA

Raum

Sachliche Mystik im Braunkohlerevier

Die ehemalige katholische Pfarrkirche Heilige Drei Könige wurde in den 1930er Jahren als Diasporakirche für eingewanderte katholische Arbeiter des seit 1906 anwachsenden Braunkohlereviers Braunsbedra errichtet. Der Architekt Johannes Reuter sen. (1897-1975) aus Bitterfeld arbeitete damals viel für das Erzbistum Paderborn, zu dem Großkayna gehörte. Er entwarf eine Saalkirche mit Empore, in der die damals vorhandene Gruppe von 650 Katholiken Platz fand. Das zugehörige Pfarrhaus baute er direkt im rechten Winkel an die Kirche an. Reuter orientierte sich im Baustil der „Sachlichen Mystik“ an seinem Vorbild, dem Architekten Dominikus Böhm. Zwei ähnliche Kirchen errichtete in etwa zeitgleich in Gräfenhainichen (Maria Hilfe der Christen, Landkreis Wittenberg) und in Delitzsch (St. Marien, Dekanat Torgau). Die Kirche zeichnet sich am Außenbau sowie im Inneren durch eine schlichte, romanisierende Formgebung aus, mit schmalen Rundbogenfenstern und Satteldach bzw. flacher Holzbalkendecke.

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Kircheninneres nach Westen mit Blick auf Empore und Haupteingang, 2022 © TRANSARA
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Kirchenfenster im Hauptschiff, 2022 © TRANSARA
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Fresko an der Chorwand, 2022 © TRANSARA

Von der ursprünglichen Ausstattung haben sich nur die im Bauverband befindlichen Stücke wie das Dreikönigs-Fresko an der Chorwand von Bernd Terhorst (später im Wiederaufbau der Nachkriegszeit angebracht), die Glasfenster und das Bischofswappen in Stein über dem Hauptportal erhalten.

Die ehemalige Kirchturmglocke ist nun auf dem benachbarten Friedhof in einem Holzgestell platziert. Der Kirchenraum ist also „leergeräumt“, behält aber dennoch seine ursprüngliche Aura der „Sachlichen Mystik“, mit vereinzelten christlichen Symbolen, die die Raumwirkung jedoch nicht dominieren und durch kleine Interventionen auch jeweils verdeckt oder wieder offengelegt werden können.

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Glockenstuhl auf benachbartem Friedhof, 2022 © TRANSARA
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Hauptfassade mit Bischofswappen, 2022 © TRANSARA

Sakral

In der Manege mit den Heiligen Drei Königen

Obwohl die Kirche seit über zehn Jahren schon nicht mehr als Gottesdienstraum genutzt wird, behält sie dennoch nach Außen sowie im Inneren den Charakter eines Sakralbaus. So betonen es auch unsere Gesprächspartner:innen: „Es wird immer eine Zirkuskirche bleiben.“ Auf der Internetplattform des Hotelanbieters wird auch mit der Kirchenfassade für die Unterkunft geworben, obwohl diese ja eigentlich im benachbarten ehemaligen Pfarrhaus installiert ist. Hier scheint „das Sakrale in einsamer Gegend“ als spezielle Unterkunft vermarktungswürdig zu sein.

Nicht ganz so einfach ist der Umgang mit den explizit christlichen Motiven im Innenraum, wie z. B. der Kreuzdarstellungen in den Kirchenfenstern, die das planende Architekturbüro in Absprache mit den Eigentümern anfänglich gerne entfernt hätte, die staatliche Denkmalpflege legte hier jedoch Veto ein.

Unproblematischer wird das Wandfresko im Chor mit der Darstellung der Heiligen Drei Könige gesehen, das aus denkmalpflegerischen Gründen nicht entfernt werden darf. 

Interessant ist aber, wie sich  der Innenraum in der säkularen Neunutzung als weitere Dimension einspielt. So wird uns erzählt, dass die Themenwahl der Kinder stärker Aspekte von Kontingenz einbezieht („Der Tod hat Urlaub“), und dass Weiterbildungen zur Persönlichkeitsbildung in diesem Raum eine besondere Energie hätten. Zugleich werden  die Dimensionen des Raumes, die eine Hierarchie implizieren (Altarpodest, Deckenbalken, Betreten des Raumes durchs Hauptportal) in der Praxis relativiert: durch eine Drehung des Raums, eine runde Manegen-Sitzform im Schiff, eine Verlagerung des Eingangs.

Weitere Umbauten sind aktuell geplant: man darf gespannt sein, wie sich neue Bedeutungen ins Gebäude einzeichnen.


TRANSARA-Perspektiven

Die aktuelle Raumnutzung zeigt noch wenig Bezug zum Raum selbst, könnte aber im Zusammenspiel mit dem geplanten Umbau das Potential entfalten, sowohl die Nutzung als auch den Ort für eine sozialräumliche Interaktion zu öffnen (vgl. mit der Turnhalle St. Maximin in Trier und der Kletterkirche St. Peter in Mönchengladbach). Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich der Raum auf das Raumverhalten und die angedachte Vermietung an mögliche weitere Nutzergruppen auswirkt.

Mit der Zirkuskirche liegt eines der wenigen Beispiele für eine vollständige Umnutzung bzw. Ablösung im ostdeutschen Untersuchungsraum vor: Ein säkularer Akteur übernimmt eine entwidmete Kirche, um sie pragmatisch für Sport- und Freizeitangebote zu nutzen. Gleichwohl sorgt der Raum mit seinen erhaltenen künstlerischen Elementen wie dem Altarraumfresko für Elemente „impliziter Sakralität“: In den mit Kindern und Jugendlichen erarbeiteten Performances kommen religiöse und existenzielle Themen zur Sprache. Zugleich werden Elemente der Raumgestaltung, die mit Hierarchie und Autorität verbunden werden, als erdrückend empfunden.

Durch die unaufwendige und flexible Umnutzung der ehemaligen Pfarrkirche mit Pfarrhaus zu einem Ort für Bildung, Sport und Unterkunft ist der Erhalt durch Weiternutzung der für diese Braunkohle-Region so typischen katholischen Diasporakirche aus den 1930er Jahren (mit Wiederaufbau nach 1945) gewährleistet und trägt damit zur Erinnerungskultur für die Region bei. Das Beibehalten der christlichen Ausstattung wie des Wandfreskos, der Kirchenfenster mit Kreuzmotivik sowie der Bibelsprüche auf den Deckenbalken hat zu anregende Diskussionen zwischen der Denkmalpflege, den Besitzern und dem Architekturbüro des Umbaus geführt. Diese Diskussion eröffnete einmal die Akzeptanz der vorliegenden christlichen Symbolik sowie der Perspektive einer Mitnahme in das neue Nutzungskonzept. Da die Region bis jetzt noch von Abwanderung betroffen ist, ist die geplante touristische Mitnutzung (als Querfinanzierung für die Sport- und Bildungsnutzung) ein Wettrennen mit der Zeit. Die Chancen auf eine Änderung stehen aber für die neu entstandenen Naherholungsgebiete im ehemaligen Braunkohlerevier und im Speckgürtel von Halle und Leipzig gar nicht so schlecht.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht wurde bei der Umnutzung darauf geachtet, eine mit den Werten der Kirche kompatible Nutzung zu etablieren, den vorhandenen Gebäudebestand bestmöglich zu nutzen, sowie Anwohnende und weitere Stakeholder in den Umwandlungsprozess miteinzubeziehen. Fraglich ist jedoch, ob die Instrumente der Immobilienwirtschaft ausreichend in die Entscheidung miteinbezogen wurden. Mit dem ZZB Halle e.V. wurde nach einem gescheiterten Versteigerungsverfahren ein Käufer gefunden, der den langfristigen Unterhalt des Kirchengebäudes sowie den Betrieb der Neunutzung sichert. Durch die Umnutzung wurde ein neues, öffentlich zugängliches Zentrum für Begegnungen geschaffen, welches positive Effekte auf die unmittelbare Umgebung ausstrahlen dürfte. Der Quartierseffekte sowie eine gewisse „soziale Rendite“ im Quartierskontext wurden somit augenscheinlich beachtet.

Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie zeigt sich: Der Raum ist für einen nicht-kirchlichen Gebrauch freigegeben und wurde, so der Eindruck von außen, von Idealist*innen auf dringender Raumsuche gefunden. Die Zirkuskirche ist dadurch ein Ort mit einer Do-it-yourself-Philosophie geworden. Besonders das Angebot kostenloser Zirkusferien für Kinder sticht heraus. Auch in der moderaten Preisgestaltung zeigt sich das Anliegen einer möglichst weiten Teilhabe-Eröffnung. Der Raum gehört zwar einem Verein und wird vermietet. Dennoch zeigt sich hier, dass eine Veräußerung von Kirchenräumen nicht automatisch zu deren Privatisierung führt.


Links und Literatur

 

Knochenhauer, Georg, 300 Jahre Braunkohlenbergbau im Geiseltal erschienen anläßlich der Festwoche 300 Jahre Bergbau im Geiseltal vom 18.06. - 28.06.1998 der Städte Braunsbedra und Mücheln, Mücheln 1998, 209f.

Kinne, Nadine, Der Architekt Johannes Reuter. Leben und Wirken in Mitteldeutschland, in: Delitzscher Heimatkalender (2009), 52-59.

Johannes Reuter Sen. Architekt BDA 50 Jahre freischaffender Architekt 1921-1958 in Bitterfeld, 1958-1975 in Kassel, o. O. 1978.

Schädler, Verena, Zwei deutsche Kirchenarchitekturen: katholische Sakralbauten von Johannes Reuter und Rudolf Schwarz im geteilten Deutschland der 1950er Jahre, in: das münster, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 64 (2011), 53–59.

Schädler, Verena, Katholischer Sakralbau in der SBZ und in der DDR (Studien zu Kirche und Kunst, Bd. 11), Regensburg 2013, 66 und 145-159.
Spieker, Brigitte, Faszination des Gegenständlichen. Der Emmericher Maler Bernd Terhorst (1893-1986) (Vergessene Künstler, Bd. 6), Bramsche 2020.

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